Das Kind, Das Nicht Fragte
laufen, ich kann nämlich viel besser laufen als Fußball spielen. Ich laufe sehr lange, ohne eine Pause zu machen, und das können die anderen Jungs nicht, denn beim Fußballspielen braucht man nicht lange laufen zu können, man läuft nur ein bisschen, und dann bleibt man stehen, und dann läuft man wieder ein bisschen und bleibt wieder stehen. Ich aber kann am Stück laufen, ohne Pause, nicht besonders schnell, aber am Stück, ohne Pause. Ich glaube, ich könnte ein guter Langstreckenläufer werden, aber ich habe das Langstreckenlaufen nicht richtig trainiert. Schnell laufen kann ich jedenfalls nicht, nein, ich laufe lange Strecken viel besser als kurze. Jeden Tag lange Strecken zu laufen würde mir großen Spaß machen, aber wo könnte ich es trainieren und mit wem? Manchmal laufe ich allein von unserem Haus aus zum Rhein und wieder zurück, ohne Pause, drei-oder viermal, das kann ich, aber ich laufe immer allein, und niemand weiß etwas davon, nein, ich habe über mein langes Laufen noch mit niemandem …
Durchatmen, jetzt nicht abbrechen! Und wieder höre ich Paula:
– Du läufst viel schneller als Deine Brüder …
Und ich mache weiter:
– Ich laufe viel schneller als meine Brüder, sie bekommen mich
nicht zu fassen. Immerzu sind sie hinter mir her, sie wollen mich fangen und festsetzen und einsperren, ohne dass es die lieben Eltern bemerken. Wenn ich ihnen davonlaufe, schreien sie fürchterlich, sie schreien oft auf mich ein und nennen mich dann »einen elenden Versager« oder auch »eine Schande«, und das alles nur, weil ich weniger rede als sie und langsamer begreife und weil ich viel Zeit brauche für alles. Haben sie mich einmal gefasst, spielen sie mit mir Polizei und Verhör und Kontrolle, und dann muss ich Straf-und Bußarbeiten erledigen und die süßen Sachen abgeben, die ich von den lieben Eltern manchmal zugesteckt bekomme. Meine Brüder wissen immer genau, wo ich meine Sachen verstecke, ich glaube, sie haben in mein Zimmer eine Kamera eingebaut, jedenfalls kennen sie jedes Versteck, und alles, was ich vor ihnen geheim halten will, zerren sie ans Licht und zeigen es dann herum. Wenn ich spüre, wie sie zu viert näher kommen, bekomme ich keine Luft mehr, ich verstecke mich, oder ich laufe davon, aber irgendwann haben sie mich dann doch gepackt und geschnappt, und dann drohen sie, dass sie mich in einen Kerker stecken und aushungern werden, so wie den Grafen von Monte Christo. Meine Brüder sind eine gefährliche Bande, und alle paar Tage übernimmt ein anderer von ihnen die Führung, so dass ich nie weiß, wer von ihnen die Befehle ausgibt und den nächsten Plan gegen mich schmiedet.
Sie warnen mich davor, anderen Menschen etwas zu erzählen, ich soll nicht verraten, was sie mir antun, und wenn ich es verrate, werden sie mich ins Zuchthaus bringen, und das dann nicht nur für ein paar Stunden, sondern für viele Jahre oder sogar für immer. Die kleineren Strafen, die sie verhängen, bestehen darin, dass ich in ihren Zimmern aufräumen, den Boden putzen oder ihre Kleider, die überall verstreut herumliegen, aufheben
und ordentlich hinlegen muss. Sie sagen, ich sei ihr »Aufräumkommando«, und dann lachen sie und geben Marschbefehle und singen Lieder, die sich grausam anhören.
Ich atme schwer, ich bekomme fast keine Luft. Da sagt Paula:
– Komm Benjamin, wir gehen nach draußen, in den Garten hinter der Kirche. Und dort erzählst Du weiter. Komm bitte!
Ich nicke, ich wische mir die Tränen aus den Augen, und dann gehen wir zusammen nach draußen, in den Garten hinter der Kirche. Dort setze ich mich auf eine Bank, und Paula holt ein Glas Wasser, und ich spüre, dass ich stark zittern muss, aber es geht, ich kann mich beherrschen. Und dann lege ich mich lang auf die Bank, und mein Kopf liegt in Paulas Schoß, und Paula hält meinen Kopf, während ich weitererzähle:
– Köln ist schön, und ich liebe meine Herkunftsstadt sehr! Wenn ich mit Mama und an ihrer Hand unterwegs bin, ist Köln friedlich, und wir gehen nach dem Regen durch seine vom Regen schimmernden, tiefdunklen Gassen. Wir atmen die Gewitterluft und den Regen und dann auch den Rhein, alle paar Tage gehen wir zu zweit an den Rhein, und dann geht es mir gut, und wir setzen uns auf eine Bank, und ich erzähle Mama lauter Geschichten, die ich mir ausgedacht habe. Es ist wunderschön, auf den Rhein zu schauen, denn der Rhein ist ein guter Freund, er ist immer da, und er verändert sich nicht, es ist immer dasselbe Wasser,
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