Das Kind, Das Nicht Fragte
auch das zweite und dritte Kölsch besser. Hörst Du mir zu? Sollen wir jetzt was zu essen bestellen?
Ich habe sehr viele solcher Szenen bis auf jedes Wort im Gedächtnis, sie haben sich mir eingebrannt, aber ich kann noch heute nicht über sie lachen, so komisch diese Szenen auch jetzt, aus der Erinnerung, wirken mögen. Mit solchen Erzählungen schafft es mein Gegenüber, aus mir eine Mumie zu machen, die auf die nächstbeste Toilette
verschwinden muss, um sich dort wieder frisch zu machen . Mach Dich mal frisch! sagte damals meine Freundin, Du siehst so entgeistert aus!
Entgeistert! – nimmt man das wörtlich, so ist es durchaus ein treffendes Wort für den Zustand, in den ich während dieser Erzählkampagnen gerate. Ich verliere an Leben, an Freude, an Wärme – und ich sehne mich nach nichts mehr, als allein sein zu dürfen. Meist bleibt mir deshalb, wenn solche panischen Zustände schlimmer werden, nur noch die Flucht. Ich haue ab, ich verstecke mich irgendwo, ich tauche unter, und ich tue es so gewandt und schnell, dass es oft niemand bemerkt und die anderen sich erst nach einiger Zeit fragen, wo ich denn bloß geblieben bin.
All das begann schon in der Schule. Es gab Tage, an denen ich mich wegen meiner bösen Vorahnungen während des Unterrichts ununterbrochen meldete, nur um am Reden zu bleiben, drangenommen zu werden und etwas sagen zu dürfen. Übergingen mich die Lehrer mehrmals und war deutlich zu erkennen, dass sie mich nicht drannehmen wollten, ließ meine Meldelust nach. Schließlich saß ich mit hochgezogenen Schultern in meiner Bank und rieb meinen aufgestützten Ellenbogen verzweifelt und stumm an der Holzkante des niedrigen Pults.
Später, in den Jugendjahren, war es beim Fußball ganz ähnlich: Ich spielte mit den anderen, es lief alles gut, die Zurufe gingen hin und her, und doch hatte ich plötzlich das Gefühl, dass das Spiel, wie sagt man? – dass es an mir
vorbei lief . Ich bekam keine Bälle mehr, ich stand bei jedem Pass an genau der falschen Stelle, und niemand forderte mich auf, hierhin oder dorthin zu laufen, um einen Pass zu erwischen.
Das waren Momente, gegen deren zwanghaften Verlauf ich meist nicht mehr ankam. Ich brauchte mich gar nicht erst zu bemühen, ich würde es doch nicht schaffen, wieder ins Spiel zu finden, das wusste ich. Und so suchte ich nur noch nach einer passenden Gelegenheit, und es gelang mir gerade noch, mit leiser Stimme zu behaupten, dass ich nun dringend nach Hause oder sonstwohin müsse. Ich muss dringend fort! – mein Gott, wie oft murmelte ich diesen Satz vor mich hin und streute ihn in die Runde. Meist schauten die anderen etwas verdutzt, da wusste ich, dass ich zur Bekräftigung dieses Satzes leicht verzweifelt auf meine Uhr schauen musste, als sei ich bereits zu spät dran . Ich schaute, ich atmete tief durch, dann setzte ich mich ab, um irgendwo in der Nähe einen Platz aufzusuchen, an dem mir kein Bekannter begegnete.
Natürlich fand dieses Verhalten nicht immer Verständnis. Wie denn auch? Was gab es denn für die anderen, die meine Empfindungen nicht teilten oder nicht einmal ahnten, was sich dahinter verbarg, daran zu verstehen? Niemand verstand mich, und niemand machte sich die Mühe, mich verstehen zu wollen . Und so führten all diese Reaktionen, die ich nicht einmal jemandem erklären konnte, in der Folge oft zu unnötigen Auseinandersetzungen oder sogar Streit. Was sollte eine Freundin
auch davon halten, dass ich plötzlich verschwunden war und mich erst Tage später wieder meldete? Und was sollten meine Mitspieler beim Fußball denken, wenn ich das Training einfach mittendrin abbrach? Immer wieder bekam ich zu hören, mein Verhalten sei nichts anderes als eine Sauerei , und immer wieder musste ich erkennen, dass mir nicht einmal eine einleuchtende Entgegnung auf eine so harsche Bemerkung einfiel. Mir ging es nicht gut , sagte ich oft im Nachhinein. Daran war etwas Wahres, natürlich war es mir nicht gut gegangen, und natürlich war ich wegen meiner starken Phobien geflohen. Andererseits konnte ich von diesen Phobien nicht sprechen, ohne fürchten zu müssen, nun gänzlich zum Gegenstand des Gespötts zu werden. Ein Mensch, der sie nicht alle hat , ist ein zwar extremer Fall, aber er ist immerhin noch ein Fall, den man zur Kenntnis nimmt und mit dessen merkwürdigem Verhalten man dann eben rechnet. Ein Mensch dagegen, der sie nicht alle hat und das auch noch weinerlich bekennt oder beklagt, ist kein extremer Fall mehr, sondern
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