Das Kind, Das Nicht Fragte
Balkon stehen. Ich stehe und blicke auf die Stadt und lausche weiter diesen Zeilen hinterher, es ist ein grausamer, aber sehr schöner Moment, in dem es mir sogar gelingt, die hinter mir stehende und wartende Paula für einen Moment zu vergessen. Als ich mich wieder umdrehe und den Balkon verlasse, sehe ich, dass sie mir kurz in die Augen schaut. Ich weiß sofort, wonach sie forscht, die Ahndung durchzuckt mich gleich – sie
forscht nach Tränen in meinen Augen, sie will herausbekommen, ob mich diese Zeilen gerührt haben.
Ich habe keine Tränen in den Augen, natürlich nicht, und ich versuche es ihr zu beweisen, indem ich sie anlächele. Sie dreht sich sofort um die eigene Achse und deutet zum Abschluss ihrer Führung auf eine Fotografie neben der Tür: Der Dichter bei seinem letzten Besuch in Mandlica auf dem Balkon dieses Hauses, sagt sie, während ich auf dem Foto einen kleinen Mann in einem schwarzen Anzug erkenne, der auf seine heiß geliebte Stadt blickt. Vielleicht, nein, bestimmt weiß er in diesem Moment, dass er diese Stadt nicht mehr lange sehen, sondern bald sterben wird, ja so ist es gewesen, ich habe in dieser Hinsicht eine konkrete Ahndung.
Die Führung ist nun endgültig beendet, und Paula öffnet die Haustür. Ich soll wieder hinausgehen, aber gerade das fällt mir nicht leicht, weil ich noch nicht fertig mit alldem bin, was ich gerade erlebt habe. Am liebsten bliebe ich noch eine Weile, nähme hinter dem großen Schreibtisch Platz und schaute aus dem Fenster auf die Stadt, um von hier aus noch mehrmals das unvergleichlich schöne Gedicht Ode an die Mutter zu hören. Hinzu kommt, dass der Rundgang durch die Zimmer mich auch in Hinsicht auf Paula stark irritiert hat. Für etwas mehr als eine halbe Stunde waren wir auf engem Raum zusammen und haben doch kein richtiges Wort miteinander gewechselt. Die gegenseitige Nähe war zu spüren, und doch ist es mir nicht gelungen, das Schweigen zu brechen. Dass Paula im Umgang mit den Einheimischen
nicht spricht, mag ich noch akzeptieren. Dass sie aber auch mir gegenüber sprachlos bleibt, der ich ihr nichts getan, sondern sie vielmehr bisher nur mit großem Respekt wahrgenommen habe, enttäuscht mich.
Ich will daher nicht einfach wie ein schlichter Museumsbesucher verschwinden, sondern ihr zeigen und beweisen, dass ich mich über ein Gespräch mit ihr freuen würde. Ich spüre, dass mich meine altbekannten Hemmungen von einer Frage abhalten, diese Hemmungen sind stark, und meistens komme ich nicht gegen sie an und lasse es mit einem Räuspern oder einer hilflosen Geste bewenden. Diesmal aber ist alles anders. Ich bemerke, wie ich gegen diese Hemmungen ankämpfe, ich verfluche sie für einen Moment, und dann beuge ich mich fast gewaltsam vor und sage in die Stille hinein:
– Dieser kleine Rundgang war sehr interessant. Ich danke Ihnen für die Führung. Darf ich Sie vielleicht einmal zum Essen einladen, abends, unten am Meer?
Sie schaut mich nicht einmal an, sondern schiebt die Haustür rasch hinter mir zu. Ich stehe draußen auf dem Podest vor der Tür und habe anscheinend keine Antwort verdient. Ich bleibe auf dem Podest stehen und blicke regungslos hinab in den dunklen Innenhof. Da höre ich sie von innen noch etwas sagen.
– Lassen Sie das! sagt sie, geben Sie sich keine Mühe!
12
I CH GEHE langsam die Treppe hinab und spüre mit jedem Schritt mehr, dass sich ein dunkles, großes Loch in mir auftut. Es ist wie ein depressiver Schub, als hätte ich von einem Moment auf den andern alles Interesse an dieser Umgebung und diesen Menschen verloren. Welcher Irrsinn hat mich hierhergeführt? Und warum stürze ich mich in ein so aufwendiges Projekt, bei dem es nicht ohne Kränkungen zugehen wird?
Ich verlasse den Innenhof und trete hinaus auf die schmale Gasse, an einer niedrigen Mauer am Straßenrand mache ich halt, setze mich darauf und drehe mich etwas seitlich, so dass ich die Stadt in den Blick bekomme. Ich habe Situationen wie diese eben in dem kleinen Museum schon mehrmals erlebt, und jedes Mal führten sie zu mehr oder minder größeren Zusammenbrüchen. Es sind Situationen, in denen ich, ohne es anfangs zu ahnen, an meine Kindheit erinnert werde. Geradewegs und mit offenen Augen gerate ich in Notlagen, die mich in mein altes Kinderzimmer zurückkatapultieren, und am Ende solcher sehr unangenehmen Szenen erlebe ich immer wieder die Urszene : dass ich allein in diesem Zimmer sitze, dass niemand meine Fragen beantwortet und dass mir alles, aber
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