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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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auch alles die Lust nimmt, selbst noch irgendwelche Fragen zu stellen.

    Eben saß die Familie noch zusammen beim Mittagstisch. Meine Brüder erzählten von ihren morgendlichen
Gesprächen und kleinen Abenteuern, dann kamen die Sportereignisse dran, dann die Fußballergebnisse – und ich sitze zwischen Mutter und Vater und bin am Ende unfähig, noch einen einzigen Bissen zu Ende zu kauen. Wie es ist, wenn einen niemand anspricht, wenn einen niemand etwas fragt oder niemand einen zumindest durch eine kleine Geste mit in die Tischrunde einbezieht? Ja, wie ist das? Was spürt man in solchen Momenten?

    Es ist, als würde man bei lebendigem Leib austrocknen und langsam absterben. Die Hände und Finger werden einem schwer, man hört auf zu atmen, man spürt das Herz pochen, und eine unheimliche Angst breitet sich im ganzen Körper wie ein heftiges Fieber aus. Schließlich glaubt man, sich überhaupt nicht mehr bewegen zu können, und man sitzt da wie eine immer schwerer werdende Skulptur, die ein kleiner Stoß zu Boden werfen könnte.

    Es dauerte dann meist nicht lange, bis auch die anderen am Tisch diese elende Versteinerung bemerkten. Er hat wieder einen Anfall , sagte dann Georg, mein ältester Bruder, während Martin, der Zweitälteste, meist aufstand, um irgendein Pseudo-Medikament zu holen, das, wie oft verniedlichend gesagt wurde, meine Lebensgeister wieder beleben sollte. Nicht selten handelte es sich dabei um eine Süßigkeit wie etwa ein Bonbon oder eine Frucht oder ein kleines Stück Schokolade. Martin legte es vor mich hin, und alle starrten mich an wie einen kleinen Affen, dem man ein Zuckerbrot in seinen armseligen Käfig geschoben hatte.

    Natürlich rührte ich diese unverschämte Gabe nicht an. Ich holte tief Luft und bückte mich unter den Tisch und kletterte auf der anderen Seite wieder hervor, um rasch in mein Zimmer zu laufen. Meist lief ein Elternteil dann hinter mir her, während ich meinen jüngsten Bruder, Andreas, laut aufstöhnen hörte: Ich kann das nicht mehr mit ansehen! Der hat sie doch nicht alle, der Kleine!

    Dass ich sie nicht alle habe – von dieser Diagnose haben sich meine Brüder bis heute nicht abbringen lassen. Und was soll ich sagen? Vielleicht haben sie ja recht, vielleicht fehlen meinem Hirn und meinem Empfinden wirklich bestimmte Kapazitäten, die sonst eben alle haben. Jedenfalls habe ich mich in meinem Leben immer wieder hüten müssen, in großer Gesellschaft irgendwo in der Mitte an einem Tisch zu sitzen, ohne diesen Tisch mühelos und rasch wieder verlassen zu können. Kann ich es einmal nicht vermeiden, mit einer solchen Gesellschaft zusammen zu essen, so suche ich mir auf jeden Fall einen Platz ganz am Rand oder in der hintersten Reihe, nahe der nächstbesten Tür, durch die ich bei einem etwaigen Anfall schnell verschwinden kann.

    Solange ich während der Mahlzeit noch Fragen stelle, kann nichts passieren. Gehen mir aber die Fragen aus, bemerke ich die drohende Versteinerung. In denselben Zustand gerate ich auch hinein, wenn keiner der Mitessenden mich etwas fragt. Warum frage nur ich immer (und das wie um mein Leben), während die anderen mich kaum oder nie etwas fragen? Und warum gelingt es den anderen so mühelos, drauflos zu erzählen und den
Zuhörer mit dem fadesten Alltagskram zu überschütten, während ich aus Respekt vor meinen Zuhörern und aus Furcht, sie zu langweilen, kein einziges Wort aus meinem Alltag erzähle?

    Einmal saß ich mit einer Freundin in einem Kölner Brauhaus, wir hatten gerade zwei Kölsch bestellt und den ersten Schluck getrunken, als sie ohne jede Einleitung oder Anlass einfach loslegte: Ich trinke ja nie mehr als drei Kölsch, drei Kölsch müssen genügen. Dabei kenne ich Typen, denen macht es nichts aus, zwanzig Kölsch hintereinander zu trinken. Zwanzig Kölsch! Selbst wenn ich das durchstehen würde, Spaß würde mir das Ganze nicht machen. Neulich habe ich mal vier Kölsch sehr rasch getrunken, und schon hatte ich keinen Appetit mehr. Andere bekommen vom Kölsch-Trinken Appetit, ich nicht. Nach dem ersten Glas, da habe ich noch einen ganz leichten Appetit, nach dem zweiten einen ganz minimalen, aber nach dem dritten muss ich schon aufpassen. Meist ist der Appetit mir dann nämlich komplett vergangen. Am liebsten esse ich nach dem ersten Kölsch etwas Einfaches, und am liebsten auch etwas aus der Region. Bratwurst, Hämchen, Sauerkraut, auch eine ganz klitzekleine Sauerkrautsuppe macht mich schon glücklich. Dann vertrage ich

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