Das Kind, Das Nicht Fragte
Kirchen sind Räume, die nicht für die Starken, sondern für die Hilflosen gebaut wurden. Niederknien, den Kopf senken, ein Gebet sprechen – unabhängig davon,
ob ich alles glaube und teile, was von den Priestern in einer Kirche gepredigt wird, haben solche Gesten der Hilflosigkeit zunächst einmal etwas Beruhigendes. Mit ihnen nehme ich mich zurück und gebe mir selbst zu erkennen, dass meine Sorgen und Probleme nicht weltbewegend sind und dass ich nicht der Einzige bin, der Sorgen und Probleme hat.
Und wenn dann die anderen Gläubigen kommen und sich ebenfalls hinknien und beten und wenig später in den Gesang des Priesters einstimmen, finde ich meine zuvor noch so ausgelöscht erscheinende Stimme wieder. Ich brauche nur mitzubeten und mitzusingen – und schon gehöre ich ganz selbstverständlich zu dieser Gemeinschaft. Ich reihe mich ein in den Chor, ich spreche und murmle das mit, was die anderen ebenfalls sprechen und murmeln – und jedes Mal erstaunt es mich, wie heilsam so etwas ist. Das gemeinsame Sprechen und Singen hebt die bittere Empfindung der Vereinsamung auf und gibt mir das Gefühl, dazuzugehören. Für etwa eine Stunde bin ich aufgehoben in diesem Kreis der Beter und Sänger, und wenn ich die Kirche verlasse, erscheint mir die Umgebung weniger kalt und feindlich.
Ich habe jedoch eine ganz andere Beziehung zu diesen Themen und Dingen als meine vier Brüder. Unsere Eltern waren sehr gläubig, und unsere Familie ist seit vielen Generationen katholisch. Als Kinder sind wir jeden Sonntag und an allen großen Feiertagen in die Kirche gegangen. Meine Brüder haben das fortgesetzt, sie sind alle noch Kirchenmitglieder, und ich vermute, dass sie
zwar nicht mehr an jedem Sonntag, aber doch alle paar Sonntage einen Gottesdienst besuchen. Sie empfinden so etwas als ihre Pflicht, und sie denken nicht weiter darüber nach. Besuche von Gottesdiensten gehören zu ihrem Leben, sie dienen der Psychohygiene, und sie geben ihnen das Gefühl, noch ein wenig von jenen Kindern zu haben, die man an der Hand nimmt und an den Altar führt.
All das kann ich gut verstehen, und ich selbst sehe einen der großen Vorzüge von Kirchenbesuchen auch darin, dass man als Kirchgänger unweigerlich wieder etwas von dem staunenden und teilnehmenden Kind bekommt, das Ermunterungen noch ernst nimmt und seelisch gestärkt die Kirche verlässt. Anders als meine Brüder habe ich Kirchenbesuche aber niemals zu einem Pflichtprogramm gemacht. Ich gehe nicht jeden Sonntag zum Gottesdienst, und ich gehe auch nicht alle paar Sonntage hin, ich verlasse mich vielmehr auf Impulse von innen, die mir sagen, wann ich in eine Kirche gehen soll. Und das muss nicht unbedingt aus Anlass eines Gottesdienstes sein.
In einer Kirche, in der gerade kein Gottesdienst stattfindet, wüssten meine Brüder aber nicht, was sie tun sollten. Sie würden zu Kunstinteressierten mutieren und am nächsten Stand einen Kirchenführer erwerben, um Altar nach Altar abzugehen und ihrer Begleitung laut vorzulesen, dass die Kreuzigungsgruppe des ersten Altares im linken Seitenschiff eine oberrheinische anonyme Arbeit aus dem 15. Jahrhundert sei. Und alles aus Lindenholz! – höre ich sie flüstern, während ihr Gedächtnis schon dabei ist, all diese Informationen sofort wieder zu löschen.
Dass man in einer Kirche, in der gerade kein Gottesdienst stattfindet, nicht weiß, was man tun soll, erscheint mir als ein bedrohliches Zeichen. Meine Brüder, denke ich, haben keine eigene Sprache für den Aufenthalt in einer Kirche, stattdessen schließen sie sich, ohne lange darüber nachzudenken, der Sprache der Gottesdienste und offiziellen Gebete an. Das ist, wie ich ja bereits sagte, nicht falsch und hat oft eine durchaus reinigende Wirkung. Es sollte aber nicht alles sein, nein, die Sprache der Gottesdienste und offiziellen Gebete sollte lediglich eine Vorgabe dafür sein, dass man zu einer eigenen Sprache findet. Zu einer Glaubenssprache. Zu einer Sprache vor Gott.
Wie bitte?! Was soll denn das sein, eine Sprache vor Gott?! Hat unser Kleiner sie noch alle?! Dass ich so rede und auf diesem Thema beharre, kommt daher, dass ich dem Sprechen und Reden in der Kirche einen Großteil meines Lebens verdanke. Ohne dieses Sprechen und Reden wäre ich nicht der, der ich bin, ich wäre kein Ethnologe, ja ich wäre vielleicht für immer der hilflose, kleine Bub geblieben, der alle paar Tage unter den Mittagstisch kroch und sich später in seinem Zimmer einschloss.
Die Rettung, von
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