Das Kind, Das Nicht Fragte
sich, wenn er auf diesem Schränkchen etwas ablegen möchte, sehr emporrecken müssen. Ich stelle mir nächtliche Aktionen dieser Art vor und lache beinahe laut. Über dem Bett aber hängt ein altes Bild des Herrn Jesus, dessen Brust so weit geöffnet ist, dass man sein entflammtes Herz sieht.
Ich halte es nicht mehr länger in diesem Schlafzimmer aus, dessen besonderer Geruch zudem weit in die Zeiten der Ahnen des Nobelpreisträgers zurückreichen mag, in
Zeiten, in denen man sich noch vor allem mit einfachen, kräftigen Suppen ernährt und die Fenster nur selten geöffnet hat. Daher mache ich eine kleine Bewegung nach links, woraufhin Paula sofort reagiert und mir voraus in das angrenzende Zimmer geht. Es handelt sich um eine Art Arbeitszimmer, denn fast die ganze Fläche wird von einem riesigen Schreibtisch eingenommen, auf dem noch ein paar Tintengläser, eine Schreibfeder, ein Briefbeschwerer und einige leere Seiten Papier liegen. Wir stehen zusammen stumm und unbewegt auch vor diesem Ungetüm, bis ich sage:
– Und an diesem Monster von einem Schreibtisch hat er seine zarte Lyrik geschrieben?
Paula antwortet auch darauf nicht, sondern zählt nur die Titel seiner Gedichtbände auf, einen nach dem andern. Dann spricht sie davon, dass er einige Zeit im Norden gelebt habe, aber immer wieder zurück nach Mandlica gekommen sei. Einzig in den Zeiten seiner Rückkehr seien ihm seine unsterblichen Gedichte gelungen, und er habe sie alle hier, an diesem Schreibtisch seines Vaters, mit der Feder auf Briefpapier geschrieben.
– Auf Briefpapier? frage ich nach, wieso denn auf Briefpapier?
Ich sehe, dass Paula nicht antworten will, anscheinend durchkreuzt eine solche Frage das strenge Korsett ihrer auswendig gelernten Auskünfte. Sie zögert aber einen Moment, dann macht sie eine rasche Handbewegung, als wollte sie andeuten, dass sie nun etwas sagen werde, was nicht zu ihrem sonstigen Text gehört:
– Er hat diese Gedichte geschrieben, als wären es Briefe an seine verstorbene Mutter.
Ich stehe wie überrumpelt da, dieser Satz löst einen Schrecken in mir aus, ich kann nicht mehr reagieren, sondern bin tief in meinem Innern damit beschäftigt, diesem Satz nachzuhorchen: Gedichte als Briefe an die Mutter. Auch Paula hält inne, sie bemerkt, dass mich etwas beschäftigt, und sagt plötzlich:
– Möchten Sie eines dieser Gedichte hören?
Ich kann nicht antworten, sondern nicke nur. Ich vermute, dass sie nun eines der Gedichte aufsagen wird, aber sie geht zurück in den Flur und drückt dort die Taste eines CD-Players. Vollkommen unerwartet höre ich dann eine Stimme, die wohl die Stimme des Nobelpreisträgers sein muss, mich aber seltsamerweise sehr an die Stimme meines Vaters erinnert. Sie ist leise, klingt warm und tief und hört sich an wie die Stimme eines überaus geduldigen Menschen, dem die Streitereien der Welt nichts mehr bedeuten und anhaben können.
Ich muss schlucken und gehe etwas zur Seite, hinüber zu der schmalen Glastür, durch die man hinaus auf den Balkon tritt. Ich versuche, die Tür zu öffnen, sie scheppert unter meinem Händedruck aber nur unbeholfen hin und her. Da aber erscheint Paula, schiebt mich ein wenig beiseite und öffnet die Tür mit einem einzigen raschen Handgriff. Ich trete hinaus auf den Balkon und bleibe dort stehen, bis die Lesung beendet ist.
Ich blicke hinunter auf den kleinen Ort mit seinen sich andächtig hinkauernden Häusern, seinen leeren und jahrhundertelang geputzten Sträßchen und Gässchen, seinen Gärten mit den winzigen Zitronen-und Orangenhainen, seinen Treppchen, die sich bis hinunter ans Meer ziehen, seinem Hafen, wo ein paar vereinzelte Schiffe an der Kaimauer herumtaumeln.
All dieses Leben wirkt von hier oben, als hätte es letztlich nur dazu gedient, einen kostbaren, literarischen Likör zu kreieren. Dieser Likör besteht aus den Gedichten des Lyrikers, den ich mir als einen unendlich einsamen Menschen vorstelle, der irgendwo im Norden Italiens nächtelang Tränen wegen seiner nicht tot zu kriegenden Erinnerungen an ein Bett, einen Nachtschrank, ein Jesusbild und einen Schreibtisch geweint hat. Gerade rezitiert er die letzten Zeilen seines Gedichts, er spricht immer langsamer und jetzt auch ein wenig feierlich. Es handelt sich um eine Ode an seine Mutter, um eine Ode, die genau diese Zimmerchen feiert, als wären sie der einzige Himmel, der ihm noch auf Erden geblieben ist.
Ich fühle mich so hilflos und bleibe lange Zeit regungslos auf dem
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