Das Kind, Das Nicht Fragte
ein Typ, dem man möglichst ganz aus dem Weg geht.
In den Jahren intensiver ethnologischer Arbeit sind meine Versteinerungsattacken seltener geworden, denn die Arbeit beansprucht mich stark und zieht daher viel Konzentration von möglichen Selbstbeobachtungen ab. Ethnologie – das ist ununterbrochenes Fragen und Antworten, ja es ist die Heilmethode schlechthin für meine Krisenzustände. Jedes Mal spüre ich das, wenn ich während der ethnologischen Materialsammlung in meinem Element bin. Der gesamte Körper ist einbezogen, denn
das Fragen stößt und bewegt das Denken voran, während die Antworten meiner Gesprächspartner sich im idealen Fall so genau auf die Fragen beziehen, als liefen ihre Gedanken haargenau auf den Bahnen, die meine Fragen vorgeben.
Doch auch in den befriedigenden Arbeitsjahren sind die Abstürze, die mich oft weit zurückwarfen, nicht ausgeblieben. Und jetzt, jetzt ist es wieder einmal soweit! Die Szenen oben im Museum sind für mich die schlimmsten seit langem gewesen. Paulas ununterbrochenes Schweigen, ihr betont an mir vorbei zielendes Sprechen, ihre harsche Absage auf meine freundliche Einladung – das alles würde schon reichen, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Aber es ist noch etwas Schlimmeres geschehen. Die Szenen oben im Museum konfrontierten mich nicht nur mit einem Menschen, der von mir und meinen Fragen rein gar nichts wissen wollte. Sie riefen mir vielmehr auch die alten Bilder meines Kinderzimmers wieder vor Augen, in das ich mich in meiner Hilflosigkeit so oft einschloss. Diese Bilder wurden begleitet von den Bildern meiner Mutter und meines Vaters, die in solchen Situationen mindestens ebenso hilflos in der Nähe meiner Tür standen und mich anflehten, diese Tür doch endlich wieder zu öffnen.
Als ich die Ode an die Mutter hörte, glaubte ich sofort, eine Ode genau dieses Inhalts und dieser Art auch schreiben zu können (oder in meinen Träumen vielleicht
längst geschrieben zu haben). Und als ich die Stimme des Lyrikers hörte, hatte ich darüber hinaus auch noch den fatalen Eindruck, dass ausgerechnet mein Vater mir die Ode vorlas, die ich selbst hätte geschrieben haben können.
Was für ein teuflischer Moment! Mein lieber Vater las Zeilen vor, die von mir hätten sein können, und diese Zeilen waren an niemand anderen als an meine Mutter gerichtet! Und so führten seine warme Stimme und die Anrufung meiner Mutter in diesem mich direkt ins Herz treffenden Gedicht mich hinüber in das kleine Kinderzimmer nebenan, in dem die Ahnen ihre Gerüche und Düfte hinterlassen hatten und der Herr Jesus sich die Brust aufriss, um mich an seinem Leiden teilnehmen zu lassen …
Ich sitze weiter auf der kleinen Mauer und überlege, wie ich aus meinem elenden Zustand herausfinden kann. Irgendeine Aktion muss her, schon irgendein kleiner Handgriff wird vielleicht etwas Linderung bringen. Doch ich fühle mich lustlos und schwach, so dass mein Antrieb nicht einmal zu einer einzigen Fotografie reicht. Na los, mach ein Foto, von hier oben hast Du einen idealen Blick auf die Stadt! sage ich mir, worauf eine tiefere Stimme in meinem Innern nur lakonisch antwortet, dass all dieses Fotografieren sinnlos und lächerlich sei.
Und so bleibe ich regungslos sitzen und starre weiter auf die hier und da bereits leicht eingesunkenen Dächer der Häuser. Einmal höre ich, wie hinter mir, in dem kleinen
Haus des Nobelpreisträgers, eines der oberen Fenster geöffnet und wenig später wieder geschlossen wird. Und nach einer Weile höre ich dann auch, dass ein paar rasche Schritte aus dem Innenhof herüberklingen und sich dann die Gasse hinab in anscheinend immer mehr zunehmendem Tempo entfernen.
Es ist längst früher Abend, als ich die Domglocken läuten höre. Ich stehe langsam auf und schlendere die kleinen Wege hinunter in die Mittelstadt. Kurz vor sieben Uhr betrete ich den Dom. Einige ältere Frauen richten gerade den Altar und zünden die Kerzen an. Gleich wird die Abendmesse beginnen.
13
G ROSSER GOTT! Wie oft bin ich in eine Kirche gegangen, wenn es mir schlecht ging und ich nicht wusste, wie ich mich von meinen Lähmungen befreien sollte! Der Gang in eine Kirche half mir beinahe immer, vor allem, wenn es eine alte Kirche war. Ich setze mich ins Dunkel, in eine der hintersten Reihen, und ich warte, bis mich die Jahrhunderte einholen und aufnehmen. Seit endlos erscheinender Zeit, denke ich, sind Menschen in genau diese Kirche gegangen, wenn sie nicht weiterwussten.
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