Das Kind, Das Nicht Fragte
nicht so konzentriert wie sonst an meinem Projekt arbeiten zu können. Bisher habe ich in meinem Leben immer sehr diskret geforscht und gearbeitet, hier aber zieht jede Aktion weiter Bahnen, was mir irgendwann auch auf die Nerven gehen könnte.
Als ich etwas später an dem kleinen Café unterhalb der Pension, in dem ich manchmal einen doppelten Espresso trinke, vorbeigehe, stehen ein paar der alten Männer draußen vor dem Café auf und begrüßen mich laut. Ich
nicke ihnen zu und gehe hinein, aber auch drinnen begrüßen mich ein paar Männer an der lang gestreckten Theke laut und unverkennbar respektvoll, einer von ihnen nimmt sogar den Hut ab, als sei ich ein Priester, der ihnen den Segen erteilen soll.
Ich fühle mich bereits ein wenig auf der Flucht. Als ich das Café verlasse, überlege ich krampfhaft, wohin ich noch gehen könnte, ohne angesprochen oder aufwendig begrüßt zu werden. Ich entscheide mich schließlich für den Dom. Doch als ich ihn betrete, kommt aus der Schar der älteren Frauen, die sich wieder in seinem rechten Seitenschiff aufhalten, ein lautes buona sera, professore! Ich winke den Frauen zu, und es ist, als wäre ich gerade zum Bischof befördert worden. Etwa zehn Minuten setze ich mich in eine Bank und tue, als studierte ich die Kunstwerke im Hauptschiff. Als ich den Dom verlasse, höre ich den Chor hinter mir: Arrivederci, professore. Ich winke erneut kurz mit der Rechten, aber es ist ein müdes, fast erschlafftes Winken.
Ich gehe gegen meine sonstige Gewohnheit zu Albertos Buchhandlung zurück und setze mich nach drinnen, um in ein paar Büchern zu blättern. Alberto nutzt aber meine Anwesenheit, um ein eher theoretisches Gespräch mit mir zu führen. Er behauptet, dass mein Fragen eine Perfektionierung des sokratischen Fragens sei. Jeder Leser wisse ja, dass es im Abendland nie einen besseren Fragenden als Sokrates gegeben habe, Sokrates sei die Inkarnation des Fragens – jetzt aber habe er einen Nachfolger gefunden, in mir, als einem weiteren Meister des Fragens.
Ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren ist, denn ich antworte (ohne dass dies wirklich meine Meinung wäre): Dass Sokrates ein großer Fragender war, ist ein nicht auszurottendes Vorurteil. Genau das Gegenteil ist wahr! Er stellte sich auf die Straßen Athens und passte den Nächstbesten ab, der gerade vorbeikam. Dann fragte er betont harmlos nach diesem und jenem, aber er hörte nicht zu. Ja oder Nein – mehr blieb den Befragten schließlich nicht mehr zu antworten, während Sokrates die Fragerunden nutzte, seine eigenen Themen und sein eigenes Denken Frage für Frage in Szene zu setzen und schließlich zu betonieren. Jawohl, Fragen wie Beton: zunächst noch flüssig, dann zu harter, öder Materie erstarrend. Immer dieselbe Methode, immer dasselbe, den anderen laut-und hilflos machende Fragen! Grausame Exerzitien an Schülern! Hat es je einen schlimmeren Fragesteller gegeben?! Er war der Vorläufer der Inquisition! Ihn haben alle nachgeahmt, die seine Fragemethoden als das begriffen, was sie eigentlich waren: als Folter!
Alberto bemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmt, denn er sagt darauf kein einziges Wort. Wir sitzen stumm in seiner Buchhandlung und regen uns nicht. Ich denke einen Moment daran, in einer Bar in rascher Folge zwei oder drei Glas Bier hintereinander zu leeren, um auf vollkommen andere und nun vor allem ganz und gar blöde Gedanken zu kommen. Ich verwerfe diese dumme Idee aber, während mir schmerzhaft bewusst wird, dass ich mich viel zu lange schon nach Paula sehne. Ich benötige jetzt einen Gesprächspartner, mit dem ich gerne spreche, und das nicht aus beruflichen Gründen. Darüber hinaus aber sehne ich mich auch nach ihrer körperlichen Präsenz: nach dem strengen, dunkelbraunen, hellwachen
Gesicht, nach der schwarzen Dichte ihrer Haare, den großen, schmalen Händen, dem schlanken Körper, der mich immer so stark an Tanz oder Tango erinnert.
– Tanz mag ja stimmen, sage ich plötzlich laut, Tango dagegen ist sicher Unsinn. Tanz ist ja auch eine offene, weite Geschichte, Tanz kann alles sein, Tango dagegen ist schon eine Spur beschränkter und eher eine sehr enge Kiste.
– Wovon redest Du? fragt Alberto leise und blättert weiter in seinem Buch.
– Können wir einen Moment mal über sizilianische Musik reden? frage ich.
– Worüber?
– Über sizilianische Tänze, über sizilianische Sängerinnen.
– Ich bin da kein Fachmann, Beniamino. An Tänzen, da gibt es zum Beispiel
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