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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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die Tarantella. Ist eine wilde Sache und wurde vor Urzeiten getanzt, um dem Körper gefährliches Gift zu entziehen.
    – Gift? Was für ein Gift?
    – Spinnengift, Gift der Tarantel, man tanzte Tag und Nacht, um das Gift aus dem Körper zu pumpen.
    – Verstehe. Und Sängerinnen, welche fallen Dir ein?
    – Rosa Balistreri, die zuerst.
    – Die Canti della Sicilia.
    – Ja, die Canti. Du kennst sie?
    – Und ob.
    – Woher kennst Du sie?
    – Sie war einmal meine Braut.
    – Wer? Rosa Balistreri?
    – Ja, genau die.
    – Das kann nicht sein, was redest Du denn, Beniamino?
    – Du glaubst mir nicht, das habe ich mir schon gedacht. Ich gehe. Bis morgen früh.
    – Beniamino, so bleib doch, wir trinken noch ein Glas Wein zusammen!
    – Nein danke. Ich gehe, ich muss schreiben.

    In den langen Jahren, in denen ich nicht mit einer Frau befreundet war, hatte ich viele Bräute. Viele, aber natürlich nicht mehrere zugleich. Ich erwähle einfach eine Frau, die mir sehr gefällt, zu meiner Braut. In Gedanken lebe ich mit ihr zusammen. Wir gehen zusammen in ein Restaurant, das meiner Braut gefällt, wir hören uns Musik an, die nicht ich, sondern meine Braut ausgesucht hat. Mit Rosa Balistreri war es eine sehr schöne Zeit. Morgens zum Frühstück habe ich ihre Canti gehört – und dann während des Tages immer wieder. Ich bin mit ihr in sizilianische Restaurants gegangen, sie hat mir Geschichten von Palermo erzählt, und wir haben sizilianisch gekocht. 1990 ist Rosa in Palermo gestorben. Ich habe eine Todesanzeige in eine Kölner Zeitung setzen und nach der Standardformel In tiefer Trauer meinen Namen drucken lassen. Die Anzeige ist niemandem aufgefallen, selbst Martin, meinem Bruder, nicht, der als Arzt ein passionierter Leser von Todesanzeigen ist.

    Als ich so plötzlich und in diesem Zusammenhang an Martin denke, ist er mir fast schon wieder sympathisch. Von all meinen Brüdern ist er der Einzige, in dessen Nähe ich es halbwegs und sogar über einen etwas längeren Zeitraum aushalte. Ich vermute, ich habe Respekt vor seinen chirurgischen Künsten, von denen ich immer
wieder gehört habe. Ich kann ihn mir aber nur schwer bei chirurgischen Eingriffen vorstellen, er ist so ungelenk und langsam, aber, wer weiß?, vielleicht hilft ihm gerade diese Schwerfälligkeit dabei, als Chirurg zu glänzen.

    Ich komme nach meinen Irrwegen durch Mandlica wieder zurück in die Pension. Ich bin müde und fühle mich schwach, an Schreiben ist nicht zu denken. Also setze ich mich für zwanzig Minuten in den kühlen Innenhof. Maria kommt zu mir und bringt mir ein Glas Tee, diesmal ist er kalt, diesmal ist es Eistee . Wir plaudern ein wenig, oder besser: Maria spricht, ich höre zu. Am Ende, als ich mich verabschiede und hinauf auf mein Zimmer gehe, sagt sie: – Beniamino, ich weiß es übrigens jetzt.
    – Was weißt Du, Maria?
    – Du warst nie verheiratet, Beniamino.
    – Und wieso bist Du Dir jetzt so sicher?
    – Du bist kein Mann für die Ehe.
    – Bin ich nicht?! Und warum nicht?
    – Du brauchst Freiheit, Leben und Abwechslung, und Du lebst in einer eigenen, anderen Welt. Das habe ich jetzt verstanden.

    Oben, in meinem Zimmer. Das unter schwachen Frühjahrswinden herumschlingernde Meer, lauter hastige, nervöse Striche von Hellblau, Weiß und Hellgrün auf meiner Leinwand.

7
    D ER BÜRGERMEISTER von Mandlica heißt Enrico Bonni. Als seine Sekretärin mich gegen 12.30 Uhr in sein Zimmer führt, sitzt er hinter einem kleinen, tadellos aufgeräumten Schreibtisch und liest in einer Tageszeitung. Er steht sofort auf und kommt mir mit raschen Schritten entgegen. Ich bin erstaunt, wie groß er ist, über ein Meter neunzig auf jeden Fall, zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahre alt, schätze ich. Er ist sehr schlank, und der dunkle Anzug sitzt so perfekt und doch lässig, dass ich ihn mir sofort als männliches Model für die Mode betuchter älterer Knaben vorstelle. Sicher läuft er täglich zehnmal um Mandlica herum, in der Frühe, wenn niemand ihn sieht. Er hat schwarzes Haar, und in der titanischen Mähne schimmert noch kein einziges graues. Ein Jurist , denke ich, ein allwissender, alles beachtender, alles einkalkulierender Jurist, ein Mann der Zukunft!

    Wir sitzen uns in zwei weißen Ledersesseln an einem kleinen Tisch gegenüber, er hat Martini servieren lassen, und als wir anstoßen, weiß ich, dass er Alkohol nicht mag. Natürlich führt er die Unterhaltung, und er tut gleich so, als wüsste er genau Bescheid über mich.

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