Das Kind, Das Nicht Fragte
Ich bin ein bedeutender Ethnologe aus Deutschland, Verfasser von viel beachteten Studien über das Wohnverhalten und die Lebensformen der Bürger im Rheinland, sicher habe ich Mandlica für meine neuste Studie ausgewählt, weil Mandlica etwas ganz und gar Besonderes ist und keine typisch sizilianische Stadt mit großer Jugendarbeitslosigkeit
wie viele andere, sondern eine einzigartige Insel, die von der Kultur der Dolci lebt. Von der Kultur der Dolci , sagt er wahrhaftig und nicht, dass Mandlica von seinen Dolci lebe. Kultur der Dolci klingt anspruchsvoll und ist eine Formulierung auf dem neusten Stand des EU-Blablas, gleich wird er zu einem Breitwandpanorama über die Kultur der Dolci ausholen, denke ich und spüre, dass ich nun mindestens für fünfundvierzig Minuten festsitzen werde. ( Warum, warum tue ich mir so etwas an? )
Dann spricht er davon, dass Mandlica die sizilianischen Traditionen der Dolci-Herstellung in sich vereine, deshalb habe die Stadt einen Architekturwettbewerb für ein entsprechendes repräsentatives Gelände ausgeschrieben, ein Ensemble von Natur und Kultur natürlich und keineswegs ein Museum wie noch in alten Tagen. Museen sind passé , sagt er und tut hoch konzentriert. Einen Moment ist es still, und ich habe ihn im Verdacht, von mir Zustimmung zu erwarten. Für uns Ethnologen waren Museen eigentlich immer passé, könnte ich sagen, aber ich sage es nicht. Stattdessen macht er weiter mit seinem Ensemble, das aus einem Park des Marzipan, aus Schokoladenwerkstätten sowie aus Studios bestehen soll, in denen die Besucher interaktiv die Geschichte der Dolci nicht als Rezipienten, sondern als Produzenten begreifen. In der Mitte des Ensembles aber erwartet den Besucher die in der Erde versenkbare Tagungsstation , ein Zentrum für interkulturelle Nahrungsmittelforschung, angeschlossen an mehrere Universitäten, die ihre Lehrkörper in Scharen nach Mandlica schicken werden.
Ich bin abgelenkt, und ich merke es daran, dass ich mir kurz überlege, ob die heranströmenden Lehrkörper so wie ich bei Mario zu Mittag essen werden. Ich brauche nicht lange zu überlegen, denn ich weiß sofort, dass sie es nicht tun werden. Mario ist passé, denke ich und hätte es fast laut gesagt. Enrico Bonni aber würde gar nicht mitbekommen, wenn ich etwas sage, er ist voll in Fahrt und entwickelt eine Mandlica-Zukunft, in der die Stadt zu einem kulinarischen Paradies Europas werden wird, und das eben nicht nur durch eine hypermodern ausgerichtete Herstellung der Dolci, nein, auch durch eine diese Praxis auf Vordermann bringende wissenschaftliche Theorie. Nahrungsmittel-und Essforschung sind heutzutage elementar, sagt er und blickt so ernst, als wollte er mich auf etwas verpflichten. Und dann kommt der Satz, auf den ich gewartet habe: Mandlica hat in dieser Hinsicht eine absolute Vorreiterrolle in Sizilien und damit auch in Europa.
– Sie sind Jurist? frage ich.
– Ja, in der Tat, antwortet er und lächelt zum ersten Mal.
– Das klingt alles fantastisch, sage ich (und meine es absolut wörtlich).
– Ja, antwortet er, es ist ein ehrgeiziges Programm.
– Wie viel Zeit werden Sie brauchen?
– Wir haben uns einen Zeitraum von fünf Jahren gegeben.
– Das klingt vernünftig und realistisch, sage ich und gebe mir Mühe, nicht zu lachen.
Ich trinke mein Glas leer und wehre ihn höflich ab, als er mir ein zweites einschenken will. Er selbst nippt nicht
ein einziges Mal an dem viel zu süßen Zeug, das ich nie leiden mochte. Cinzano, Campari, Martini – das sind die ersten Getränke, die die neuere Trinkforschung einmal kritisch unter die Lupe nehmen sollte, denke ich. Aber dann wird es mir zu langweilig, und ich sage:
– Meine Forschungen über Mandlica werden – und jetzt verzeihen Sie mir und legen Sie es nicht als Größenwahn aus –, meine Forschungen werden ein Jahrhundertwerk werden. Zum ersten Mal wird die neuere Ethnologie die engeren Grenzen einer Fachwissenschaft überschreiten und alles einbeziehen, was im intermedialen Sinn von Bedeutung ist: die Theorie des Gesprächs, die Theorie der normativen Gesellschaft, die Theorie der amourösen Komplikation, ja sogar die Manier-Theorie abendländischer Tischsitten. Hier in Mandlica bringe ich, und verzeihen Sie mir, wenn ich jetzt auch noch metaphorisch werde, das sizilianische Erbe der Griechen, Normannen und Araber zum Glühen – und zwar eben nicht im Gewand der traditionellen historisierenden Ethnologie, sondern als multiple Theorie
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