Das Kind, Das Nicht Fragte
neurotisch-virtueller Geschmacksvalenzen. Im Grunde zielt mein Werk, das in der Ethnologie einmal die Rolle eines bahnbrechenden Standardwerks spielen wird, auf eine Theorie der Verschmelzung. Integrieren und sezieren – das sind die Darstellungsmodi. Probieren und artikulieren – das sind die Affektschemata.
– Und wie viel Zeit werden Sie brauchen? fragt Bonni, sichtlich beeindruckt.
– Ich habe mir einen Forschungszeitraum von etwa fünf Jahren gegeben, sage ich.
– Aber das wäre ja fabelhaft, sagt er rasch, und ich weiß genau, dass sein hochgezüchtetes Planungshirn jetzt Fünf und Fünf auf einen Nenner bringt.
– Was meinen Sie? sage ich betont langsam und lauernd.
– Dann wäre unser Zentrum ja exakt genau dann fertig, wenn auch Ihre Studie fertig ist.
– Stimmt, sage ich, was für ein schöner Zufall!
– Zufall?! Nein, viel mehr! Wir werden aus dem Zufall etwas Großes machen.
– Etwas Großes?
– Ja, Sie werden den Eröffnungsvortrag für unser Zentrum halten. Vor Hunderten angereister Wissenschaftler, Kommentatoren und Kommunikatoren aus ganz Europa!
Ich rücke, scheinbar begeistert und plötzlich sehr munter, auf meinem Sitz etwas nach vorn.
– Keine schlechte Idee! sage ich. Und das alles im Rahmen eines großen Kongresses! Man sollte die dafür notwendigen Gelder schon jetzt beantragen. EU-Gelder natürlich, und außerdem Gelder von Sponsoren der Dolci-Industrie. Ich denke an Ferrero und … – ach mein Gott, da kann man ja wirklich Hunderte von Einfällen haben.
Enrico Bonni ist vollkommen begeistert, im Grunde liebt er sein Amt vor allem wegen eines solchen Gesprächs, in dem es um eine strahlende, hypermodern ausgerichtete Zukunft geht, in der das alte Mandlica der mittelständischen Schokoladen-und Marzipan-Hersteller in digitalen und virtuellen Apotheosen untergeht. Und so reibt er sich auch längst die Hände, denn natürlich sieht er sich in solchen Momenten als Befreier Mandlicas von seiner althergebrachten Geschichte.
– Wären Sie denn bereit, mit unserer Planungskommission zusammenzuarbeiten? Sie sprechen fließend Italienisch und
sicher auch Französisch und Englisch, Sie wären ein idealer Kommunikator!
– Wenn Sie das wünschen, gebe ich mein Bestes, antworte ich.
– Dann werde ich den Leiter unserer Kommission darüber informieren. Wo kann er Sie erreichen?
– Wie heißt er denn, der Leiter Ihrer Kommission?
– Es handelt sich um Professore Volpi. Er ist hier geboren und …
– Volpi? Seine Mutter lebt doch hier.
– Sie kennen Volpi?
– Nicht direkt, aber ich kenne seine Mutter.
– Das ist erstaunlich, sie verlässt ihr Haus nämlich kaum noch.
– Es gibt auch andere Wege für eine Begegnung, sage ich.
Bonni scheint etwas irritiert, denn er schaut mich einen Moment forschend an. Als ich dann aber den Namen der Pension nenne, wo man mich erreichen kann, ist der winzige Funken Misstrauen sofort wieder verschwunden.
– Sie wohnen bei Maria! Das ist die beste Adresse, die Sie hätten wählen können!
– Ich wohne bei Maria und Paula.
– Paula?! Richtig, Paula! Ich habe sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Was ist mir ihr? Ist sie krank?
– Neinnein, sie ist länger unterwegs gewesen. Seit ich hier bin, arbeitet sie eng mit mir zusammen und hält den Kontakt zu den Archiven, Bibliotheken und Forschungszentren Siziliens.
– Was Sie nicht sagen! Das freut mich aber, dass Sie eine so ideale Mitarbeiterin gefunden haben! Wer gehört denn sonst noch zu Ihrem Forschungsteam?
– Hier in Mandlica arbeite ich allein. Meine Kontakte zu den sizilianischen Zentren pflegt Paula. Darüber hinaus aber bin ich an die Forschungseinrichtungen meiner Universität in Köln angeschlossen. Das gesamte Datenmaterial fließt in gewaltigen Mengen beinahe täglich dorthin und wird gespeichert, auf Schlag-und Stichworte hin systematisiert und ergebnistechnisch weiter aufgearbeitet. Vier ständige wissenschaftliche Mitarbeiter und zwei Technik-Spezialisten sind dafür zuständig. Meine Arbeit ist ein Teilprojekt des transnationalen Großprojekts »La Sicilia Dolce in passato e futuro«.
– Grandios! Und, sagen Sie, wie ist das Projekt finanziert?
– Meinem Team stehen 1,5 Millionen Euro, zunächst für den Zeitraum von zwei Jahren, zur Verfügung.
Er ist so hingerissen, dass er mich am liebsten umarmen würde. So einen wie mich hat er seit langem gesucht, einen, der das ergebnistechnisch noch weit zurückgebliebene Mandlica in sanften EU-Kurven
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