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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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englischen Paar beobachtet, das am Frühstückstisch immer nebeneinander und nie einander gegenüber sitzt. Sie haben die einzeln stehenden Betten zusammengerückt, sagte sie, und jetzt scheuen sie sich, morgens einander in die Augen zu schauen.

    Ich sehe dann aber schnell, dass sie wirklich nicht gekommen ist, um mir ein diesbezügliches Angebot zu machen. Sie spricht vielmehr davon, dass im ganzen Ort von mir die Rede sei und dass dieses Getuschel wohl von Alberto ausgehe.
    – Alberto behauptet, dass Du ein Magier des Fragens bist. Du schaust die Leute an und ahnst, was mit ihnen los ist, Du hast anscheinend ein Wissen oder eine Intuition, die andere nicht haben. Du sprichst aber nicht darüber, sondern befragst die Leute zunächst einmal lange und gründlich. Und dann scheint alles etwas seltsam zu werden, denn Alberto behauptet zum Beispiel, dass er Dein Fragen nach einer Weile überhaupt nicht mehr richtig bemerkt. Er fühlt sich dann, sagt er, wie unter Narkose, er verliert das Bewusstsein und bekommt doch irgendwie mit,
dass er operiert wird, und nach der Operation wacht er auf, und es geht ihm besser. Hat er recht? Läuft das so? Und wie machst Du das?
    – Beschreibt Alberto unsere Begegnungen so? Mit mir hat er darüber noch nie gesprochen.
    – Nun weich mir nicht aus! Sag, was da abläuft!
    – Das kann ich so einfach nicht sagen, es ist kompliziert und in jedem Einzelfall anders.
    – Du weichst wieder aus!
    – Nein, tue ich nicht. Es handelt sich um komplizierte Prozesse, die auf langem Training beruhen.
    – Komplizierte Prozesse?! Was soll denn das heißen? Spielst Du jetzt plötzlich den großen Gelehrten?
    – Nein, natürlich nicht. Ich bin jemand, der sich auf das Fragen versteht, sagen wir es so.
    – Und wieso verstehst Du Dich darauf so gut?
    – Es hat … – mein Gott, es geht weit zurück, es ist eine alte Sache.
    – Es scheint ja ein großes Mysterium zu sein …
    – Nein, auch das nicht. Es hat mit meiner Kindheit zu tun.
    – Natürlich, womit auch sonst? Jedes menschliche Mysterium hat mit der Kindheit zu tun. Was ist denn passiert in Deiner Kindheit? Ist Dir ein Engel erschienen und hat Dir geflüstert, wie man andere Menschen befragt?

    Sie ist richtig gereizt, aber sie sieht, dass sie zu weit gegangen ist. Ihre letzten Sätze haben mich verletzt, und anscheinend sieht man mir das nun auch an.
    – Was ist denn los? fragt sie rasch, ist Dir nicht gut?
    – Ich rede nicht über meine Kindheit, sage ich, ich rede auf gar keinen Fall über meine Kindheit!

    Es ist still, und sie schaut plötzlich etwas zur Seite, als wäre es ihr peinlich, mich anzuschauen. Nun ist es doch gut, dass der Tee auf dem Tisch vor uns steht. Ich trinke meine Tasse leer und schenke uns nach.

    – Jetzt verrate mir endlich, warum Du wirklich gekommen bist, sage ich.
    – Das ist doch ganz einfach, antwortet sie. Ich möchte, dass Du mich auch befragst, ja, ich möchte von Dir genauso befragt werden, wie Du Alberto befragst.

    Das ist es also! Sie möchte, dass ich auch an ihr einige Operationen vornehme, die sie mit ihren dunklen Seelenzonen bekannt machen. Wahrscheinlich hält sie mich für so etwas wie einen genialen Analytiker, der tief in die menschliche Seele einzudringen versteht. Aber das bin ich nicht, ich bin kein Analytiker, sondern ein Ethnologe.
    – Ich bin kein Analytiker …, sage ich.
    – Das weiß ich, fällt sie mir ins Wort. Meinst Du, mich interessiert dieses psychoanalytische Brimborium? Nein, tut es nicht. Ich will davon nichts hören, überhaupt nichts. Ich habe es sogar einmal damit versucht, aber ich habe es gleich wieder abgebrochen, es ist nichts für mich.
    – Und was versprichst Du Dir dann von unseren Gesprächen? frage ich.
    – Vorerst verspreche ich mir noch rein gar nichts, sagt sie. Ich möchte einfach nur befragt werden, das ist alles, ich möchte Dir von meinem Leben erzählen.
    – Von Deinem Leben? Ist das Dein Ernst?
    – Ja, Du fragst, und ich werde erzählen. Mehr nicht. Du
brauchst zu dem, was ich erzähle, nichts zu sagen, Du sollst es Dir nur anhören und weiter fragen, immer weiter.

    Ich stehe auf, ich habe das dringende Bedürfnis, mich zu bewegen. Auf ein solches Projekt bin ich nicht vorbereitet, noch nie hat mich jemand mit einer solchen Bitte konfrontiert. Du bist kein Analytiker, Du bist Ethnologe, wiederhole ich im Stillen, denke dann aber auch darüber nach, ob ich, ohne es zu wissen, gegenüber Alberto andere und ungewöhnlichere Methoden des

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