Das Kind, Das Nicht Fragte
Fragens angewandt habe als sonst. Du bist etwas älter und dadurch eventuell reifer und professioneller geworden, denke ich, vielleicht merkst Du gar nicht mehr genau, dass und wie Dein Fragen sich in letzter Zeit verändert hat. Schließlich hat auch Paula neulich von Deinem Fragen gesprochen und es ausdrücklich gelobt.
– Maria, sag ehrlich: Hat auch Paula mit Dir über das alles gesprochen?
– Paula?! Nein, wieso?
– Ich habe mich mit Paula neulich länger im »Alla Sophia« unterhalten.
– Ja, ich weiß.
– Und was weißt Du noch?
– Nichts – außer, dass Ihr Euch unterhalten habt.
– Paula hat sonst nichts dazu gesagt?
– Nein, hat sie nicht. Stattdessen ist sie einfach verschwunden.
– Verschwunden? Wohin denn?
– Ich weiß es nicht. Sie ist einfach verschwunden. Sie meldet sich nicht auf dem Handy, sie ruft auch nicht an, sie ist verschwunden.
– Seltsam.
– Seltsam, ja, das kannst Du laut sagen.
– Passiert so etwas häufiger?
– Seit wir hier leben, ist es erst einmal passiert.
– Und was war damals los?
– Das erzähle ich Dir, wenn Du mich genauer befragst, vorher nicht. Befragst Du mich also?
Ich stehe noch immer unschlüssig vor dem geöffneten Fenster und denke ernsthaft darüber nach, ob ich es schließen soll. Es ist sehr warm, im Zimmer herrscht eine leicht mulchige Schwüle – und ich Idiot denke wahrhaftig darüber nach, ob ich das Fenster schließen soll!
– Maria, es tut mir leid, sage ich, aber ich habe noch eine Verabredung.
– Na gut, dann verschwinde ich jetzt, sagt sie.
– Du bist mir aber nicht böse? frage ich.
– Ach was, sagt sie. Du sagst mir jetzt, ob Du es machst oder nicht – aber böse bin ich Dir in keinem Fall.
– Ich habe noch zwei Fragen, antworte ich. Wann wäre der richtige Zeitpunkt für ein solches Gespräch? Und wo sollten wir miteinander sprechen?
– Darüber habe ich auch schon nachgedacht, antwortet sie. Mein Vorschlag wäre, dass wir uns am frühen Abend unterhalten, so gegen acht, nach Deinen Schreibexzessen. Und wo? Am einfachsten wäre es, wenn wir uns hier in Deinem Zimmer unterhalten. Das würde aber zu Gerede führen, Du verstehst. Dass wir uns aber irgendwo draußen im Ort unterhalten – das kommt erst recht nicht in Frage, weil es noch zu viel mehr Gerede führen würde. Bleibt als dritte Möglichkeit, dass wir mit
Deinem oder meinem Wagen irgendwo hinfahren. Das wäre sehr umständlich …
– Meine Befragungen sollten an ein und demselben Ort stattfinden und nicht jedes Mal woanders, sage ich.
– Na bitte, antwortet sie, so etwas habe ich mir auch bereits gedacht. Dann bleibt uns also nur dieses Zimmer. Und dann muss es uns eben egal sein, was im Ort geredet wird.
– Ich denke darüber nach, sage ich.
– Ernsthaft?
– Natürlich ernsthaft, sage ich.
Sie steht auf und kommt einen Schritt auf mich zu, sie will sich durch einen Kuss auf beide Wangen, links, rechts, verabschieden. Da ich sie reflexhaft aber ebenso küssen will, treffen sich unsere beiden Münder plötzlich in der Mitte, und wir küssen uns auf den Mund. Es ist eine sicherlich lächerliche Szene, die mich sofort an mein Missgeschick mit den Marzipan-Früchten auf dem Flughafen von Catania erinnert. Ich will etwas sagen, um der Szene ihre Peinlichkeit zu nehmen, als sie mich von sich aus ein zweites Mal auf den Mund küsst. Es ist ein langer, nicht aufdringlicher, wohl aber intensiver Kuss, und er ist einfach genial, weil er alle Peinlichkeit durch eine einzige, stimmige Geste beseitigt.
– Ich mag keine halben Sachen, sagt Maria. Und dann nimmt sie das Tablett, öffnet die Tür und verschwindet, ohne noch ein Wort zu sagen.
6
Z U BEGINN unserer heutigen Befragung überreicht mir Alberto eine Einladung des Bürgermeisters. Der hat … ( na was wohl?), exakt, er hat von mir gehört, und es ist ihm eine Ehre, einen so bedeutenden Ethnologen auch im Namen der Stadt herzlich willkommen zu heißen. Das Gespräch soll morgen Mittag gegen 12.30 Uhr im Rathaus stattfinden …
Als ich am späten Mittag in die Pension zurückkomme, weiß Maria bereits, dass ich die Einladung angenommen habe. Sie weiß das, weil sie mit einer Angestellten im Rathaus befreundet ist und weil diese Angestellte wie anscheinend fast alle Angestellten im Rathaus staunend bemerkt, dass ich in Mandlica langsam zu einer Berühmtheit aufsteige, die auch der Bürgermeister nicht mehr ignorieren kann …
All das macht mich etwas unruhig, und ich habe das Gefühl,
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