Das Kind, Das Nicht Fragte
die mich etwas erstaunen. (Taugen sie was? Sind sie ausbaufähig? Und wie komme ich plötzlich auf sie?)
Ich lasse Maria etwa eine Viertelstunde von Lucio erzählen, dann beende ich die Befragung. Ich erkenne ihre leichte Ermüdung und dass sie (wie gehofft) den Eindruck macht, aus einem Halbschlaf (oder einem Tagtraum) zu erwachen. Sie lächelt etwas schüchtern und leicht betäubt und fasst einen Moment nach dem kleinen Tisch, den sie ein paar Zentimeter von sich wegschiebt. Ich sage ihr, dass wir uns jetzt leider trennen müssen und auf keinen Fall noch weiter miteinander reden werden. In ein paar Tagen werden wir die Befragung fortsetzen.
– Und Du bist wirklich zufrieden? fragt sie.
– Sehr, antworte ich.
– Aber wieso eigentlich? Habe ich denn schon etwas Besonderes gesagt?
– Vieles, sage ich.
– Vieles? Aber was? Ich begreife das nicht.
– Du kannst mir glauben.
– Ich glaube Dir aufs Wort. Und ich danke Dir, es war …
– Lass doch, Lob heben wir uns für später auf.
– Na gut. Was denn noch? Einen Kuss?
– Nichts mehr. Keinen Kuss.
– Ich soll verschwinden? Einfach so?
– Ja, einfach so.
– Ich kann nichts mehr für Dich tun?
– Doch, morgen früh wieder, zum Frühstück. Opus Eins: Mandeln in Weiß.
9
G UTE BEFRAGUNGEN können bis zu vier Stunden dauern. Danach bin ich so erledigt, dass ich zunächst nur Wasser trinken kann. Nichts essen, nichts trinken, außer eben Wasser (und am besten: Leitungswasser). Gebe ich der starken Müdigkeit nach und lege mich hin, geht viel Stoff verloren. Er springt und sinkt einfach weg, uneinholbar. Deshalb versuche ich, mich wach zu halten und meine Überlegungen fortzusetzen. Meist gehe ich kurz spazieren und trinke dann doch irgendwo einen Schluck. Auch nach dem Gespräch mit Maria ging ich durch den Ort und trank dann in einer Bar zwei Glas Sherry. Sherry? Wirklich Sherry? fragte der Mann hinter der Theke, und ich bemerkte, dass die Bestellung von Sherry einen hier in Mandlica auf Distanz bringt und hält.
Die Anmache, ja, das ist das Schwierigste. Bin ich als Erwachsener je angemacht worden? Nein, nie, ich bin nie angemacht worden. Kurz befragt, das schon, auch angefragt, abgefragt, knapp durchgefragt, aber nie angemacht. Seit den Kinder-und Jugendtagen (und den wenigen starken Momenten mit den lieben Eltern) habe ich niemandem länger von mir erzählt. Niemand hat mich tagträumen lassen, niemandem ist es gelungen, mir Erzählungen zu entlocken, von denen ich nicht wusste, dass sie darauf warten, laut erzählt zu werden.
Ich bin meinen vier Brüdern so gram, weil sie genau die richtigen Personen gewesen wären, mich anzumachen. Sie hätten die Rolle der Eltern und die des Beichtvaters übernehmen müssen, und danach wäre wiederum eine Frau an der Reihe gewesen, an die Stelle meiner vier Brüder zu treten. Doch meine vier Brüder sind mir gegenüber sprachlos geblieben, während ich zumindest heimlich, in stummen Selbstgesprächen, mit ihnen gesprochen habe. Aus jedem meiner vier Brüder habe ich einen idealen Gesprächspartner gemacht, so hatte ich gleich vier Fragesteller, und jeder hatte ein anderes Spezialgebiet. Um ihren gezielten Fragen gewachsen zu sein, habe ich mich vorbereitet. Ich habe die jeweilige Fachliteratur (juristische, medizinische, pharmazeutische, antike) gelesen und mir genau überlegt, wie ich sie zur Geltung bringen könnte. Ich wollte dem Unterhaltungsniveau meiner Brüder gewachsen sein, ich wollte glänzen. In meinen geheimen Selbstgesprächen gelang mir das auch, doch in der Realität hatten die Gespräche zwischen meinen Brüdern und mir nur das Niveau von Telefongesprächen: Geht es Dir gut? Wo bist Du? Kann ich was für Dich tun? Wann kommst Du zurück? (Das sind die Fragen hilfloser Eltern. Meine lieben Eltern haben anders und besser gefragt, doch meine vier Brüder entblöden
sich bis heute nicht, unter das Frageniveau unserer verehrten Eltern zu sinken.)
Einmal (und ausgerechnet in New York) ist es mir gelungen, einen Taxifahrer anzumachen . Ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir und setzte mich am frühen Abend in sein Taxi, damit er mich zu meinem Hotel brachte. Es war ein Weg von höchstens fünfzehn Minuten. Müde stellte ich ihm ein paar Verlegenheitsfragen, und er antwortete zunächst ebenfalls kurz und erkennbar gelangweilt. Plötzlich aber bemerkte ich, dass ich mit irgendeiner harmlosen Bemerkung etwas in ihm getroffen hatte. Jedenfalls begann er zu erzählen, und er hörte gar nicht
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