Das Kind, Das Nicht Fragte
aufgreifen. Fünf stille Minuten, in denen ich ein Glas Wasser trinke und mich über die Maßen nach einer Antico toscano sehne (könnte ich jetzt eine rauchen, würde mir sofort eine passende Einstiegsfrage in den dritten Teil einfallen). Ich überlege kurz, ob ich viel riskieren oder doch eher eine brave Variante wählen soll. Dann entscheide ich mich für das Risiko.
– Maria, seit wann schläfst Du nicht mehr mit Lucio?
Die Frage durchfährt sie. Sie reckt sich auf und schlägt gleichzeitig ein Bein über das andere. Sie spreizt die Finger der rechten Hand und mustert jeden einzeln, als habe sie plötzlich fünf kleine Kinder, nach denen sie kurz schauen muss. Ich erwarte eine Rückfrage oder jedenfalls Widerstand, aber ich habe mich getäuscht, denn sie antwortet: – Ich habe keine genaue Erinnerung mehr an das letzte Mal, und das sagt ja wohl alles.
Jetzt bloß dieses Thema nicht weiter vertiefen! Rasch ganz andere Perspektiven suchen! Das Thema Lucio neu aufrollen, langsam, geduldig, und den ersten Behauptungssatz platzieren, der die Narkose einladen könnte.
– Damals, als Ihr beide, Paula und Du, Lucio kennengelernt habt, sind Dir seine Pullover aufgefallen. Was war so merkwürdig an diesen Pullovern?
Ich habe nie mit ihr über Lucios Pullover gesprochen. Mir selbst ist aber während der beiden Mahlzeiten in seinem Restaurant sein leichter, grauer Pullover aufgefallen, ein Pullover, wie ihn niemand sonst in Mandlica trägt (seltene Farbe, seltener Schnitt, und ein Pullover, obwohl es doch draußen relativ warm ist …). Wenn Maria jetzt nicht stutzt, sondern relativ rasch zu erzählen beginnt, ist das Narkose-Stadium erreicht.
– Lucio trug immer graue Pullover. Wie merkwürdig, dass er selbst an warmen Tagen graue Pullover trägt, dachte ich damals. Ich habe diese Pullover sehr an ihm gemocht, sie machten ihn älter und verliehen ihm etwas Seriöses. Am schönsten waren die Momente abends, wenn er nach seiner Arbeit den Pullover über den Kopf streifte und über eine Stuhllehne legte. Da lag sie, seine Haut, sein intimer Schutzanzug, den er den ganzen Tag übergestreift hatte, um sich vor den Sonnenanbetern zu schützen. Er saß dann im weißen Unterhemd da und trank ein kühles Bier. Erschöpft und liebenswert wie ein Kind, das mit seiner Küche gespielt hat.
– Er hat den Dingen in der Küche Namen gegeben …
– Den Dingen in der Küche hat er eigene Namen gegeben.
Den Schneebesen nannte er Schaumschläger und die Nudelrolle Dampfwalze, der Toaster hieß Springteufel und der Fleischwolf Impotentes Gedärm. Es hat großen Spaß gemacht, für ihn zu kochen, und niemals gab es in der Küche auch nur ein lautes Wort. Wenn seiner Mannschaft etwas besonders gut gelungen war, hat er alle probieren lassen und Fotos von den Gerichten gemacht. Jedes fotografierte Gericht bekam dann wiederum einen Namen und wurde in einer Opus-Reihe geführt, als handelte es sich um Werke eines bedeutenden Komponisten. Opus Eins war eine ganz schlichte Mandelmilch und hieß Mandeln in Weiß, und Opus Fünfzehn war eine Orangenpraline und hieß Cezanne grüßt Van Gogh, ich erinnere mich noch sehr genau.
– Er hat immer nur Bier getrunken und Wein nur, wenn er seinen Gästen einen guten Wein vorstellte und präsentierte …
– Am liebsten hat er Bier getrunken, aber es musste gut gekühlt sein, und nach dem dritten Glas Bier war es dann auch möglich, einen gut gekühlten Spumante mit ihm zu trinken, während er Wein im Grunde nicht mochte, dabei aber immer so tat, als bedeutete ihm ausgerechnet der Wein am meisten …
Jetzt ist das schönste Stadium der Befragung erreicht: Die sacht geführte, freie Erzählung, das Stadium der somnambulen Selbstvergessenheit , in dem die Befragte sich fallen lässt. Wenige Stichworte genügen, um die Erzählung im Fluss zu halten, und immer wieder bin ich erstaunt, wie Menschen, die so etwas gar nicht ahnen und nicht von sich vermuten, derart fabelhaft erzählen können. Ich bin noch selten einem Menschen begegnet, der das nicht kann, aber es bedarf, bevor er damit beginnen kann, einer genau auf ihn zugeschnittenen Vorbereitung (ich nenne es brutal und profan: Anmache ). Die passende Anmache , die mein Gegenüber in Bewegung versetzt und die freie Erzählung ins Laufen bringt, ist der schwierigste Teil meiner Befragungstechnik. Sie zu komponieren, ist der Gipfel der ethnologischen Kunst .
Ethnologische Kunst? Ethnologisches Kunststück?! Ich notiere die neuen Begriffe,
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