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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sind genau diese Sätze, die im Nachhinein bei den Befragten den Eindruck entstehen lassen, narkotisiert oder hypnotisiert worden zu sein. Im Spätstadium des Gesprächs haben sie vergessen oder verdrängt, dass ich ihnen viele dieser Sätze in den Mund gelegt habe. Sie glauben, diese Sätze selbst gefunden zu haben, und wundern sich dann darüber, dass ihnen Zusammenhänge und Details aufgefallen sind, an die sie vorher nicht einmal gedacht haben. Im Idealfall sind viele dieser Sätze ein Treffer. Geht einer von ihnen einmal ins Leere, entsteht ein prekärer Moment: Die Befragten erwachen, schauen einen zweifelnd an und fragen
(wie angeekelt) zurück: Wie bitte?! Was redest Du denn für einen Unsinn?!

    Kurzprotokoll I. Maria kann sich keinen Menschen vorstellen, mit dem sie einen engeren Kontakt haben könnte als mit Paula. In der Kindheit waren die beiden unzertrennlich. Nach dem Ende der Schulzeit haben sie die Ferien miteinander verbracht. Für Maria war es (mehrfach betont) eine unglaublich schöne Zeit. Die großen europäischen Städte (London, Paris, Madrid, Rom, Helsinki), Musikfestivals, Shopping, Dancing, die Nächte im Freien, das ganze spätpubertäre Programm. Um sich ein solches Lebensgefühl (vital und auf Reisen, täglich andere Menschen, aber lose Kontakte) möglichst lang zu erhalten, ist sie Stewardess geworden. Paula war dagegen, hat es dann aber toleriert. Sie selbst hat studiert, ziellos, an verschiedenen Universitäten, immer andere Fächerkombinationen, ohne je an einen Beruf oder ein späteres Leben zu denken. Keine Ehe!, keine Kinder! – das seien selbstverständliche Gebote für sie beide gewesen. Dann habe es sie beide während einer Ferienreise durch Süditalien (eigentlich wollten sie nur nach Neapel) nach Sizilien verschlagen. Mit einem Mietwagen seien sie an einem Sonntag in Mandlica angekommen, verschwitzt und ausgehungert. Durch einen blöden Zufall (sie, Maria, sei gerade auf der Toilette gewesen, um sich ein wenig frisch zu machen) habe Paula draußen, im Freien, in einer Bar, beim Trinken von Espresso und Wasser die Bekanntschaft eines Mannes gemacht. Diese Bekanntschaft habe ihr ganzes Leben verändert.

    Schnitt. Natürlich weiß ich längst, dass es sich bei dieser Bekanntschaft um Lucio handelt. Würde ich Maria jetzt weitererzählen lassen, würde sie das Thema Lucio von
dem soeben Erzählten her in Angriff nehmen und damit in einen engen Zusammenhang bringen. Lucio wäre dann so etwas wie der erste Mann, der in unser gemeinsames Leben getreten ist. Ich selbst ahne, dass Lucio das enge Zusammenleben der beiden Schwestern dramatisiert und wahrscheinlich eine erste, starke Konfrontation zwischen ihnen heraufbeschworen hat. Beide könnten sich gleichzeitig in ihn verliebt haben (oder, sehr viel wahrscheinlicher: Eine von ihnen hat sich in ihn verliebt, und die andere glaubte, mit ihr gleichziehen zu müssen. Damit sie beide wieder ähnlich empfänden. Damit keine von ihnen mit etwas ganz anderem beschäftigt wäre als die Schwester. Damit das schwesterliche Zusammenleben wieder parallel verliefe). Ich habe sehr genaue Vermutungen in dieser Hinsicht, aber ich brauche noch etwas Zeit, damit sich diese Vermutungen in mir verfestigen und bestätigen.

    Nach der kurzen Pause: rascher, brutaler Themenwechsel. Ich bitte Maria, wahllos zehn Gebäude in Mandlica zu nennen, die ihr nach ihrer ersten Ankunft in der Stadt als Erstes auffielen. Danach bitte ich sie, wiederum zehn Gebäude zu nennen, die sie in den ersten Wochen ihres Aufenthaltes regelmäßig besucht hat. (Solche Fragestellungen sind klassische Ethnologie und arbeiten den von mir schon erwähnten topographischen Psychoraum heraus, der für jeden Menschen einer Stadt ein anderer ist. Fragt man viele Menschen nach solchen Räumen, ergeben sich aus den Überschneidungen psychogrammatische Stadtpläne. ) Als Letztes frage ich in diesem Part meiner Befragung (einem Part der Zerstreuung, auch als Konzentrationsübung
zu verstehen, im Verlauf dieser Fragestunde aber auch ein Part der Ablenkung) nach fünf Farben, die Maria mit Mandlica in Verbindung bringt. Sie beantwortet alle drei Fragen sehr ruhig und bestimmt, ohne lange nachdenken zu müssen (was ein gutes Zeichen ist).

    Wiederum Schnitt. Ich bitte Maria, ruhig noch ein Glas Sherry zu trinken. Ich sage, dass ich mit diesem Gespräch außerordentlich zufrieden bin (was sogar stimmt). Ich möchte das Thema Lucio im kurzen Schlussteil des Gesprächs jetzt noch einmal

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