Das Kind, Das Nicht Fragte
mehr auf. Ich musste ihn drängen, mich zu meinem Hotel zu fahren, denn er drehte laufend neue Runden. Er nahm an, dass es mir, wenn ich ihn unterbrechen wollte, um das Geld gehe, deshalb erklärte er, dass ich nichts zu bezahlen brauche, wenn ich ihn zu Ende erzählen lasse. Ich möchte die Sache gerade noch zu Ende erzählen, sagte er, dabei wusste ich natürlich, dass es so etwas wie ein zu Ende erzählen niemals gibt. Am Ende musste ich ihn mit aller Macht bitten, mich endlich zum Hotel zu fahren, wo ich verabredet sei. Er brachte mich schließlich auch hin, blieb dann aber vor dem Hotel stehen, bis ich wenige Stunden später wieder erschien. Ich verließ das Hotel und ahnte nicht, dass er gewartet hatte. Ich stand einen Moment unschlüssig herum, da rollte sein Wagen aus einer Seitenstraße vor und platzierte sich dreist und direkt vor den anderen wartenden Taxis. Es war großer Film (aus dem ich später ein Drehbuch machte, das niemanden interessierte).
Eine gute Anmache ist der Übergang zum erotischen Zustand. Der Alltag verschwimmt und lädt sich auf mit Symbolik, jedes Stück Haut bekommt etwas Herausforderndes, jedes Ding in der Nähe verwandelt sich in das Objekt eines Spiels. Alles ist möglich: ein Aufbruch, eine Reise, ein Flanieren durch eine fremde Stadt, ein Abtauchen ins Meer. Ich beobachte seit langem, wie bestimmte Filme versuchen, diesen erotischen Zustand zu inszenieren. Der Film Casablanca zum Beispiel besteht aus unendlich vielen Anläufen, genau das hinzubekommen. Immerzu wird das leichte Verschwimmen in den Augen von Ingrid Bergman und Humphrey Bogart in Nahaufnahmen gezeigt, und immerzu wird ihnen dann verwehrt, weiterzumachen. Ingrid, Humphrey – macht’s bitte noch einmal, höre ich den Regisseur laufend aus dem Hintergrund rufen, und wahrhaftig ist daraus der laufend wiederholte Standardrefrain des Films geworden: Do it again, do it again … – Ingrid und Humphrey sind die seltenen Darsteller eines nicht aufhörenden do it again.
( Der schmerzhafte Eindruck, den der Film »La dolce vita« beim Sehen jedes Mal hinterlässt, rührt daher, dass sich die beiden zentralen Protagonisten unablässig abmühen, den erotischen Zustand herbeizuführen. Es will ihnen aber nicht gelingen, und diese Erfahrung eines andauernden Misslingens lässt sie endlich resignieren, klein beigeben und verstummen. )
Ich habe viele Ideen für gute Drehbücher, in denen es um den erotischen Zustand geht. ( Träume ich vielleicht letztlich davon, dass sich die Realität endlich in ein perfektes Drehbuch verwandelt? )
Nach dem zweiten Glas Sherry weiß ich plötzlich (mit absoluter Sicherheit), dass Paula einen zweiten Vornamen hat. Dieser zweite Vorname lautet Sophia, und genau diesen Vornamen hat Lucio als Namen für sein Restaurant gewählt.
Mit Alkohol lässt sich in meinem Fall viel erreichen. Trinke ich ihn dosiert und allein, öffnen sich häufig die weiten Felder der Intuition wie von selbst. Ich bemerke es daran, dass ich zunächst mit mir selbst, dann aber auch rasch mit anderen rede. Es ist wie zu den kindlichen Zeiten der Beichte: Gott antwortet, indem ich mir selbst antworte. Viele dieser kostbaren Selbstgespräche notiere ich. Setzt sich jedoch jemand zu mir, ist alles aus. Aus lauter Verzweiflung beginne ich dann, immer mehr zu trinken. Do it again, Benjamin, do it again …
Das Verrückte ist, dass mir wahrhaftig einmal (aber nur ein einziges Mal in meinem ganzen bisherigen Leben) eine Frau begegnet sein muss, mit der ich (wie ich jetzt nur vermute) die Kurve bekommen habe. Aus dem Stadium verzweifelten Trinkens haben wir es zusammen (beide trinkend) geschafft, den erotischen Zustand zu erreichen und festzuhalten, über viele Stunden hinweg. Ich weiß genau, dass es einmal geschehen ist , aber ich weiß nicht, wo und auch nicht mit wem, und natürlich weiß ich erst recht nicht, wie es ausging und was danach geschah. Woher ich es dann trotzdem so genau weiß? Ich träume es häufig, ich sitze in einem filmischen Traumland und spiele in einem meiner Drehbücher die Hauptrolle. Plötzlich erscheint sie, die Partnerin, von irgendwoher
und allein. Wir fahren mit der Pariser Métro, oder wir gehen in ein Tanzlokal, wir sitzen mitten in einer Großstadt auf einem Schiff und treiben einen nächtlich erleuchteten Fluss hinunter. Ununterbrochen sprechen wir miteinander, aber ich verstehe sie nicht richtig. Nur manchmal höre ich etwas Musik (Jazz), und ganz selten habe ich nach dem Erwachen eine
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