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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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die jungen Frauen heranzukommen. Meist sind sie mit der Einladung zu einer Befragung einverstanden, kurz vor einem Termin sagen sie dann aber doch ab und sind später nicht mehr zu erreichen. Ich habe noch mit keiner einzigen Frau unter dreißig gesprochen, das wird allmählich zu einem Problem. Sollte ich in diesem Punkt keine Fortschritte machen, werde ich Maria um Hilfe bitten.

    Maria ist eine geradezu ideale Gesprächspartnerin. Sie hat schnell begriffen, wie ich vorgehe und warum ich gerade angesprochene Themen oft abrupt beende und zu anderen Themen übergehe. Von Diktier-und Aufnahmegeräten ist sie inzwischen stark angezogen, so dass ich sie im Verdacht habe, sich ein solches Gerät gekauft und ihm viel Mündliches anvertraut zu haben. Ich weiß nicht, wie ich so etwas einschätzen soll. Ist die Unabhängigkeit unseres Gesprächs dadurch gefährdet? Könnte sich durch Wiederholung Routine einschleichen? Im Fall Marias muss ich besonders aufmerksam sein, da sie eine intelligente und hellwache Gesprächspartnerin ist.
Sherry zu trinken, hat sie längst aufgegeben, jetzt ist es immer nur eiskalter Tee, jedes Mal in einer anderen Geschmackskombination: Zitronentee, Minztee, Jasmintee mit Holunderextrakt. (So etwas zu trinken würde mich bereits ablenken, also trinke ich Wasser, nichts als Wasser.)

    Meine Frage nach einem zweiten Vornamen Paulas ist ein Treffer ins Schwarze: Paula heißt mit zweitem Vornamen Sophia. Als Maria damit herausrückt, sagt sie nur kurz:
    – Sie heißt Sophia, jaaaa, Sophia. Jetzt weißt Du’s, und jetzt kannst Du Dir allein zurechtreimen, was immer Du willst. Mehr sage ich im Augenblick nicht, Ende des Themas, Schluss, Aus!

    Mehrmals spricht Maria in letzter Zeit davon, dass sie am Ende des Monats für ein paar Tage nach Catania müsse, um sich dort untersuchen zu lassen. Jedes Jahr lässt sie sich untersuchen, und jedes Mal kommt sie, wenn alles gut verlaufen ist, in angeblich bester Laune zurück. Sie will sehr alt werden, und sie glaubt, dass ihre ausgebliebenen Ortsveränderungen in den letzten Jahrzehnten sehr dazu beitragen werden. Einige der alten Frauen in der Oberstadt sind bereits über hundert Jahre alt. Sie haben Mandlica niemals verlassen, und sie legen jeden Tag dieselben Wege durch die schmalen Gassen der Oberstadt zurück.
    – Früher, sagt Maria, haben in der Oberstadt die Bedienten des Hofes gewohnt. Der hatte seinen Sitz etwas darüber, im großen Kastell.
    – Was ist mit diesem Kastell? frage ich.
    – Schau es Dir doch mal an, antwortet Maria. Es ist an drei Tagen in der Woche geöffnet, immer spätnachmittags und abends. Die Touristen gehen gerne dorthin und huschen jedes kleine Treppchen hinauf, als dürfte man für sein Eintrittsgeld kein Einziges auslassen. Vom Hauptturm hast Du eine fantastische Aussicht. Sonst ist das gesamte Kastell leer.

    Gestern Nachmittag überrascht Maria mich mit der Nachricht, Paula habe sich nun endlich auf dem Handy gemeldet. Sie werde bald zurückkommen, versprochen, sagt sie. Mehr darf ich nicht erfahren.

11
    W ÄHREND DER familiären Mittagessen, zu denen ich jetzt zweimal in jeder Woche eingeladen werde, spricht beinahe ausschließlich die mittlere Generation. Es ist jener Teil der Großfamilie, der am härtesten arbeitet, mindestens zwölf Stunden täglich. Der Vater und seine (meist sehr schweigsamen) Söhne stellen die Dolci her und leiten das angeschlossene Café. Mutter und Töchter helfen, so gut es geht, in ihren freien Stunden. Die Mutter sitzt an der Kasse, die Töchter leiten den Service. Gegen zwölf Uhr mittags verschwindet die Mutter, um das Mittagessen für die gesamte Familie zu kochen. Die Großeltern tauchen dann und wann in den Betrieben auf, helfen manchmal auch aus, kümmern sich sonst aber um das wichtige Thema Konversation mit den Kunden. Gäste und Besucher wollen gut unterhalten sein und haben viele Fragen.

    Bei Tisch sitzen die Großeltern jeweils am Kopf des Tisches. Die Speisen werden ihnen zuerst gereicht und wandern dann langsam (über die Enkel) zur Mitte des Tisches, wo sich wiederum Mutter und Vater gegenüber sitzen. Die Großeltern sagen kaum etwas. Wenn sie aber sprechen, stellen sie etwas klar, ergänzen etwas oder erweitern ein Thema um einen kleinen Akzent. Die zentrale Rede führt das Elternpaar der mittleren Generation, und zwar durchaus gleichmäßig verteilt auf den weiblichen und männlichen Part. (Es gibt auch Männer, die eher wortkarg oder sogar schweigsam sind, dann sprechen

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