Das Kind, Das Nicht Fragte
sich daran gewöhnt, ich lasse das Thema Trinkgewohnheiten aber zunächst auf sich beruhen.
Während der Befragung läuft wie immer mein Aufnahmegerät. Mit der Hand notiere ich Stichworte, über die ich später, wenn ich das Gespräch abhöre, noch einmal genauer nachdenken will. Jede Befragung eröffnet ein
weites, zunächst vollkommen undurchsichtiges Personales Feld mit lauter disparaten Themen, die eng miteinander verbunden sind, und manchmal sogar so eng, dass man die Bezüge kaum noch erkennt. Ein Hauptfehler, den man immer wieder begeht, besteht darin, die Themen von vornherein zu trennen und sie unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen. Eine Notiz wie Sherry – ein Lieblingsgetränk der Befragten hauptsächlich am frühen Abend , eingeordnet unter Personale Esskultur / Täglicher Bedarf / Essrituale verengt das Thema Sherry. Ein Glas Sherry – das könnte nämlich auch als Protestgetränk gegen sizilianische Trinkrituale dienen und damit zu eher sozial definierten Kategorien gehören: Widerstand gegen Traditionen/ Soziale Rituale/ Gesuchte Autarkie. Solche Bezüge und Verbindungen herauszubekommen, gehört zum Schwierigsten und Schönsten der Arbeit. Und genau hierin, solche Verbindungen zu entdecken, besteht meine eigentliche Stärke, die wohl auf meine ganz besondere Ahndunk zurückzuführen ist.
Bin ich mit einer einzelnen Person länger allein in einem Raum und habe ich die Möglichkeit, dieser Person Fragen zu stellen, wächst mein intuitives Wissen von ihr stetig. Plötzlich ahne ich die seltsamsten Dinge: dass sie einmal Cello gespielt hat, dass sie als kleines Kind länger krank war, dass sie gern Auto fährt. Die Befragten haben solche Details oft kaum noch in Erinnerung. Wenn ich sie darauf anspreche, erinnern sie sich meist nur mit Mühe. Wird die Erinnerung dann aber doch lebendig, kommen sie aus dem Staunen nicht mehr heraus: Woher wissen Sie das? Wer, verdammt noch mal, hat Ihnen davon erzählt? Ganz wie es ihre Art ist, wartet Maria nicht darauf, dass ich die erste Frage stelle. Sie nimmt einen kleinen Schluck und beginnt: Ich bin vor vielen Jahren nach Mandlica gekommen … Ich brauche aber nur eine kurze Handbewegung zu machen, dann hört sie auf. Ich sage, dass ich ein paar Minuten brauche, um ein paar Formalia zu notieren, und ich füge hinzu, dass wir während dieser Minuten nicht miteinander reden sollten. Danach werde ich die Befragung beginnen, die beim ersten Mal nicht länger als eine Stunde dauern soll. Es handle sich um ein Orientierungsgespräch, mehr nicht, zu einem späteren Zeitpunkt würden die Gespräche dann konkreter und zielorientierter. So die Regeln, wir sollten uns an sie halten.
– Natürlich halten wir uns daran, sagt sie etwas kleinlaut, dann halte ich jetzt mal einfach die Klappe.
19.37 Uhr. Maria. Sie trägt wieder den schlichten, dunkelblauen Arbeitskittel wie neulich auch. Keine Anzeichen von Nervosität. Anscheinend hat sie sich all das, was sie nun erzählen möchte, bereits zurechtgelegt. Eine Menge Text hat sich in ihr angestaut, und obwohl sie sehr mitteilsam ist, kommt sie nicht dazu, das mitzuteilen, was ihr wichtig ist. Sie redet sich den Druck, vom Wichtigen sprechen zu wollen, vom Leib, indem sie ohne Unterbrechung über das Unwichtige redet. Alter:? Seit wann verheiratet:? Warum keine Kinder:?
Ich schaue einen Moment konzentriert gegen die weiße Decke. Dann beginne ich mit einer Frage, die sie niemals erwartet haben kann: – Maria, wo ist Paula?
Sie schaut irritiert, sie versteht nicht, warum wir gerade mit dieser Frage beginnen. Ich sage ihr, dass sie selbst keine Fragen stellen, sondern meine Fragen beantworten soll. Überhaupt soll sie nicht darüber nachdenken, wie und was ich sie frage, sie soll vielmehr einfach nur antworten, so gut sie es eben kann. Nach kurzem Hin und Her ist sie so weit. Zu Beginn antwortet sie betont kurz, und ich verstehe sofort, dass sie auf den Fragekomplex Paula zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingehen will. Sie will Paula umgehen, genau das ahnte ich, und genau deshalb beginne ich jetzt mit Paula (eigene Frage-Interessen braucht der Fragesteller nicht zu verleugnen, er sollte sie aber für sich behalten).
Nach etwa einer Viertelstunde verläuft das Gespräch flüssig, und ich nehme an ihm ausschließlich dadurch teil, dass ich kurze, prägnante Fragen stelle. In einer zweiten Stufe werde ich dann dazu übergehen, knappe Behauptungssätze einzustreuen, die ich der Befragten probeweise in den Mund lege. Es
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