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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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ein Café oder eine Bar dürfen wir uns selbst zu zweit oder zu dritt nicht setzen. Das Sitzen draußen im Freien ist nämlich noch immer den Männern vorbehalten. Die aber sitzen dort stundenlang, und es ist vollkommen gleichgültig, mit wie vielen anderen Männern sie dort sitzen. Auch das Alleinsitzen ist für einen Mann nichts Außergewöhnliches, ja, er legt manchmal sogar Wert darauf, als einer gesehen zu werden, der allein auf einem möglichst alten Stuhl sitzt und nichts anderes tut als über zwei Stunden an einem Glas Wasser zu nippen. Auf diese Weise beweist er, dass er ein Mann ist, dem es gut geht und der es sich leisten kann, zwei Stunden lang nichts anderes zu tun. Zwei Stunden bei einem Glas Wasser sind Zeichen einer höheren Lebensart, mit der ein Mann zeigt, dass er über den Dingen steht, sich nicht mehr in die alltäglichen Probleme einmischt und seinen eigenen Gedankengängen nachgeht. Viele Männer halten das für aristokratisch.
    – Worüber unterhaltet Ihr Frauen Euch in der Kirche?
    – Über alles. Wir erzählen uns den ganzen Tratsch der Welt und der Tage. Leider können wir dabei nicht sitzen, denn wohin sollten wir uns auch setzen? Sich in die Kirchenbänke zu setzen und dann drauflos zu erzählen, das gehört sich nicht. Also bleiben wir stundenlang stehen und reden. Oft nehmen wir sogar die kleinen Enkelinnen mit in die Kirche und beschäftigen sie dort. Sie dürfen Kerzen anzünden und das Weihwasser nachfüllen und die Blumen in den Vasen austauschen. In vielen Enkelinnen wächst dadurch eine erstaunliche Liebe zum Kirchenraum. Wenn sie älter werden und die Kirchen seltener und schließlich gar nicht mehr besuchen, steckt in ihnen doch noch immer die Liebe zu Kirchenräumen. Kommen sie dann aus der weiten Welt einmal wieder hierher und sind hier für ein paar Wochen zu Besuch, gehen sie ganz selbstverständlich auch wieder in die Kirche. Viele nimmt das dann so mit, dass sie zu weinen anfangen. Es ist aber kein verzweifeltes, hartes Weinen, sondern ein ergriffenes, sanftes, ja, es ist ein schönes Weinen.
    – Schönes Weinen? Ist diese Formulierung von Ihnen, Ricarda, oder nennen es auch die anderen Frauen so?
    – Auch die anderen Frauen nennen es so, wir sprechen gar nicht so selten von einem schönen Weinen. Es ist eine sizilianische Formulierung, ja, so eine Formulierung gibt es nur auf Sizilien. Wir sprechen davon, wenn Menschen plötzlich von etwas ergriffen sind und dann die Fassung verlieren. Etwas Schönes, das sie vergessen oder nicht mehr bemerkt haben, überwältigt sie. Der Glaube hat viel Schönes, das die Menschen in der Kindheit noch genau kennen, dann aber vergessen. Stoßen sie durch einen Zufall darauf, sind sie erschüttert und weinen das schöne Weinen.
    – Haben Sie selbst auch oft so geweint?
    – Nein, ich habe den Glauben nie verloren oder vergessen. Ich
habe viele Male allein und für mich geweint, aber es war kein Weinen wegen Sachen des Glaubens.
    – Warum haben Sie dann geweint, Ricarda?
    – Ich möchte darüber nicht sprechen.
    – Sie haben geweint, weil Sie oft allein waren und Ihnen niemand mehr zugehört hat, wenn Sie etwas erzählen wollten.
    – Ja, ich möchte darüber aber nicht sprechen.
    – Sie haben geweint, als Sie bemerkten, dass Ihre Enkelin Pia aufgehört hat zu singen. Ihre Enkelin Pia hat sehr schön gesungen, im Kirchenchor, später auch als Solistin des Chores. Alle haben ihre Stimme gemocht, dann aber hat sie plötzlich und ohne dass klar geworden wäre, warum, aufgehört mit dem Singen.
    – Woher wissen Sie denn das?! Ich habe nicht darüber mit Ihnen gesprochen.
    – Stimmt es denn? Stimmt, was ich sage?
    – Ja, es stimmt. Und es stimmt anscheinend auch, was die Leute von Ihnen erzählen.
    – Was erzählen Sie, Ricarda?
    – Dass Sie vieles wissen, was niemand sonst weiß. Dass Sie geheime Dinge wissen und dass nur Sie diese Dinge wissen. Ist das so? Haben die Leute recht?
    – Ich beantworte keine Fragen, Ricarda. Ich habe Ihnen zu Beginn unserer Gespräche gesagt, dass ich keine Fragen beantworte. Das gehört zu den Regeln. Ich bitte Sie um Verständnis.
    – Entschuldigen Sie, professore, ich möchte die Regeln ja einhalten und nicht verletzen.
    – Gut, dann frage ich zum Schluss noch etwas Wichtiges, das mit der Kirche zu tun hat. Warum gehen noch immer so viele Menschen an den Sonntagen zu den Gottesdiensten in die Kirche? Es wird doch nicht so sein, dass sie es alle aus lauter Frömmigkeit
tun. Ich kann mir das nicht

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