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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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vorstellen. Oder ist es doch so, sind die meisten noch immer sehr gläubig?
    – Natürlich sind sie das nicht, professore. Sie gehen in die Kirche, weil sie in der Kirche für die Dauer eines Gottesdienstes eng zusammen sind. Sie können einander heimlich beobachten, sie können den Blick auf einem anderen Menschen ruhen lassen. Den Blick ruhen lassen – so nennen wir das. Die jungen Männer können den Blick auf den jungen Frauen ruhen lassen, sie können sie lange anschauen, ohne dass es auffällt. Sie gehen einfach in die letzten Reihen der Kirche, denn die jungen Frauen sitzen weiter vorne, in den vorderen Reihen. Die jungen Männer können ihre Blicke schweifen lassen und die junge Frau, die sie verehren oder sogar lieben, ohne Scheu über fast eine Stunde betrachten. Ihr Kleid, ihre Haartracht, ihre Hände, ihre Bewegungen, ihre Strümpfe, ihre Schuhe – die jungen Frauen überlegen genau und lange, was sie anziehen, wenn sie in die Kirche gehen.
    – Und die älteren Frauen? Überlegen die auch lange?
    – Aber natürlich. Sie tun es schon aus Gewohnheit, und sie tun es, lachen Sie jetzt nicht, weil sie sich trotz ihres Alters noch für junge Mädchen halten. Das junge Mädchen in einem selbst wird man nie los – das ist wieder so eine sizilianische Redensart, wissen Sie. Auch die älteren Frauen wünschen sich nichts mehr, als von älteren oder jüngeren Männern angeschaut und beobachtet zu werden. Sie möchten die Blicke anziehen, sie möchten beachtet und durch die Blicke geehrt werden. Es ist schön, voller Achtung oder sogar Bewunderung angeschaut zu werden. Was gibt es denn Schöneres, professore?
    – Die jungen Leute wählen sich also während der Gottesdienste ihre Partner. Und sie tun es zunächst ausschließlich durch Blicke. Stimmt das?
    – Ja, das stimmt. Sie tun es zunächst nur durch Blicke, weil
sie ja nicht einfach zum anderen hingehen und mit ihm reden können. Hingehen und reden gilt bei uns nicht als anständig. Die jungen Männer müssen also genau überlegen, ob sie es riskieren wollen, mit einer jungen Frau direkter in Kontakt zu kommen. So ein direkter Kontakt durch Sprechen und Reden bedeutet meistens schon viel. Tauchen zwei junge Menschen längere Zeit zusammen in der Öffentlichkeit auf, sind sie oft schon miteinander verlobt. Und eine Verlobung kann man nicht mehr ungeschehen machen.
    – Gibt es Verlobte, die das versucht haben? Erinnern Sie sich an solche Paare, Ricarda?
    – Ich erinnere mich an Lucio und Paula, professore. Die beiden waren vor Jahrzehnten ja einmal verlobt und haben die Verlobung dann aufgelöst, und Lucio hat dann Paulas Schwester, die Maria, geheiratet. Aber das werden Sie ja längst wissen, Sie wissen ja beinahe alles.

12
    I CH MÖCHTE frühstücken, aber Maria ist nirgends zu sehen. Ich setze mich an einen Tisch, hole mir eine Zeitung (die auf dem Tisch der Rezeption liegt) und warte. Es dauert mehr als zehn Minuten, bis ich Bewegung in der Küche höre. Ich vermute, dass Maria verschlafen hat, deshalb gehe ich hinüber in die Küche, um ihr zu helfen. Als ich den Raum betrete, sehe ich Paula, die dabei ist, mir das Frühstück zu machen.
    – Guten Morgen. Ich komme gleich mit den Sachen, sagt sie,
als hätten wir uns noch am Abend zuvor gesehen und lange miteinander gesprochen.
    – Ah, Du bist wieder zurück! sage ich überrascht und bemerke sofort, dass ich Paula duze.
    – Duzen wir uns seit neustem? fragt sie und stellt die Sachen für das Frühstück auf den kleinen Rollwagen.
    – Entschuldigen Sie, antworte ich. Natürlich duzen wir uns nicht.
    – Doch, tun wir, sagt sie. Wir duzen uns ab sofort.

    Sie fährt den Rollwagen hinüber in den Frühstücksraum, und ich trotte hinterher. Soll ich sie fragen, ob sie mit mir frühstücken möchte? Das geht vielleicht doch etwas zu weit, obwohl ich den geradezu beängstigend heftigen Wunsch habe, jetzt, sofort, mit ihr zu frühstücken. (Was ist los? Ich habe nie gerne zusammen mit anderen Personen gefrühstückt. Fremde Menschen an meinem Frühstückstisch ignoriere ich durch penetrantes Schweigen. Hotelpersonal, das mich am Frühstückstisch anspricht, wird mit dunklen, Angst einflößenden Drohblicken bestraft.) Statt Paula aber zu einem gemeinsamen Frühstück einzuladen, verfalle ich in meine gewohnte Zurückhaltung. (Je stärker ich mich nach etwas sehne, umso zurückhaltender werde ich. So das Benjamin-Merzsche-Gesetz der umgekehrt proportionalen Zurückhaltung .) Ich sage also:
    – Wo

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