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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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kann Dir sagen: Es werden sehr viele Fehler gemacht, gerade in der italienischen und erst recht in der sizilianischen Küche! Kein Mensch denkt über die richtige Zubereitung der Gerichte nach, denn die meisten Köche kochen noch so, wie es eine uralte Tradition vorschreibt. Die italienische Küche ist eine der ältesten und besten der Welt, aber gerade deshalb ist sie auch vollkommen erstarrt. Jetzt aber genug davon, komm, wir gehen ins Meer!

    Sie zögert keinen Moment, sondern steht auf und geht die paar Schritte zum Wasser. Sie macht dort aber nicht halt, sondern geht einfach weiter, nach einigen Schritten lässt sie sich vornüberfallen und schwimmt mit starken Armbewegungen davon. Sie kommt rasch voran, ihre Züge sind gleichmäßig, und ich vermute, dass sie eine enorme Ausdauer hat und weit hinausschwimmen wird. Ich trinke mein Glas leer, gehe in das Haus zurück und ziehe mich um. Drinnen riecht es jetzt nach Jasmin und anderen stark duftenden Blumen, eine richtige Blütenduftwärme steht in dem kleinen Bau, ich schnuppere kurz an meiner Kleidung und stelle fest, dass sie von diesem Duft bereits etwas durchdrungen ist. Dann ziehe ich mich aus, streife die Badehose über und gehe zum Wasser.

    Der schmale Sandstreifen lässt mich etwas innehalten. Ich starre auf den leuchtenden Boden, der übersät ist von zerstoßenen, weißen Muschelsplittern und grün leuchtenden Algenbündeln. Wie feine Schwämme tanzen sie hin und her. Nach ein paar Metern ist das Wasser so klar, dass ich den Grund gut erkenne, ich blicke auf
eine weltabgewandte, stille Wüstenlandschaft aus parallel verlaufenden, geschlängelten Dünen. Je weiter ich ins Meer gehe, umso unruhiger wird ihre Struktur, das Geschlängel nimmt zu und bildet große, weite Augen, und dazwischen treiben nervöse, immer wieder zur Seite zuckende Fischschwärme mit sehr kleinen, durchsichtig glänzenden Fischen. Nirgends ein Stein, die Grundfarbe dieses Bildes ist sandgelb, darüber die schwere Schicht des Meeres, wie blaugrünes Gelee, in dem sich ein paar Meerestiere verfangen, ohne sich noch zu bewegen. Ich erkenne kleine, weiße Krebse, sie stecken im Sand und rühren sich nicht, und ich sehe jetzt auch Seeigel, zusammengeballt zu undurchdringlichen Haufen, die über den Sand kollern. Ich bin mit alldem so beschäftigt, dass ich gar nicht ans Schwimmen denke. Als ich dann aber nach Paula schaue, ist sie längst weit fort, ein schmales Segment schwarzer Farbe am Horizont, das im Blau des Meeres zerläuft.

    Ich gehe weiter, bis ich keinen Grund mehr unter den Füßen spüre, und als ich dann endlich losschwimme, verstehe ich nicht mehr, warum ich in den letzten Jahren nie im Meer gewesen bin. Dieses Schwimmen ist nämlich nichts anderes als eine einzige starke Befreiung. Keine Grenzen, keine herandrängenden und sich aufspielenden Bilder mehr, stattdessen die pure Weite, der offene Himmel, die Unendlichkeit! Ich schwimme nicht besonders schnell, komme aber doch einigermaßen gut voran, und als ich mit angehobenem Kopf in diese Weite schaue, denke ich plötzlich, dass sich mein Herz öffnet. Dein Herz öffnet sich! (denke ich wahrhaftig wie ein Kind
und bin auch noch derart begeistert von diesem Ausruf, als hätte ich ihn in einem uralten griechischem Text, bei einem der frühsten Lyriker Griechenlands, in fragmentarischer Form gefunden: Das Meer: / Und das Herz, das sich öffnet … )

    Früher dachte ich immer, das Meer sei nichts für mich, zu viele Menschen, zu viele Albernheiten. Allein die Possen der Halbnackten, die sie mit ihrer Bademontur treiben, dazu lauter Liegen in Reih und Glied (oder, noch schlimmer: Strandkörbe!) und grellfarbige Sonnenschirme und natürlich die übliche Dumpfnussmusik , der neuste, krudeste Popmop , Saison für Saison … – Aber warum habe ich mir nur das und nichts Besseres vorstellen können? Das hier ist jedenfalls ein griechischer Strand, und das hier ist das griechische Meer, von dieser Küste aus haben die Griechen Sizilien erobert und mit der Kultivierung seiner Fluren und Täler begonnen – diese starke Fantasie hat sich jetzt festgesetzt, und ich werde sie wohl nie mehr los.

    Und ich schwimme immer weiter und spüre, wie ich leichter werde und das ewige Denken und Reden zurücklasse, ich werfe das alles ab, ich entkomme ihm, ich bin schon weit draußen, und wenn ich mich umdrehe, liegt das dunkelblaue Haus in der kleinen Bucht wie eine märchenhafte Erscheinung, in der Menschen wohnen, die eine ganz andere Sprache

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