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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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langen Warten nun ununterbrochen den Hof. Ich müsse bleiben, unbedingt, sagte er, er werde sich das Leben nehmen, wenn ich Mandlica verließe – na, in unserem jetzigen Alter kennen wir diese Sprüche und ihr schweißtreibendes Pathos, ich aber kannte sie damals noch nicht. Hätte mir in Bayern, auf dem Bauernhof unserer Eltern, wo Maria und ich aufwuchsen,
vielleicht ein junger Bursche gesagt, dass er sich das Leben nehmen werde, wenn ich ihm nicht in seinen heimischen Bretterstadel folgen werde? Das wäre ja zum Lachen gewesen und höchstens niederbayrisches Volkstheater! Lucio aber präsentierte die komplette Rhetorik des Werbens, alles, was man sich als junge Frau wünscht, und das mit einer Mischung aus Naivität, Feuer und Schüchternheit, die mich einfach hinriss. Nun gut, das reicht jetzt, ich hasse Wiederholungen. Und das Thema war ja auch nicht Lucio, sondern seine Kochkunst, seine Küche.

    Damals also, als ich »wie ein Stern vom Himmel« – ja, so nannte Lucio es wirklich – in Mandlica erschien, machte er sich gerade selbständig und eröffnete sein eigenes Lokal. Er zog mich hinein in sein Projekt, wir verlobten uns, natürlich wollten wir heiraten, ich war längst »auserkoren«, mit ihm in der noblen Küche zu stehen und für die Feinschmecker Mandlicas und der Region zu kochen. Das Problem war, ich konnte gar nicht kochen! Daher hielt ich den Mund, stellte mich in die Küche, lernte und lernte und las mich nachts durch die halbe europäische Kochliteratur. Ich begreife schnell, ich lerne rasch und mühelos, ich konnte das immer schon, es macht mir Spaß, etwas Interessantes zu erlernen, schon in der Kindheit war das so. Also war ich, was die Theorie betraf, bald auf einem gewissen Niveau. Ich wollte aber auch umsetzen, was ich gelernt hatte, ich hatte viele Ideen, und ich stellte mir vor, dass mein liebenswürdiger Lucio auf nichts anderes wartete als darauf, dass ich diese Ideen in der Praxis realisieren würde. Da hatte ich mich aber gewaltig getäuscht! Lucio wünschte sich von mir gar keine Ideen, er glaubte, selber welche und vor allem genug davon zu haben! Und welche hatte er? Die alten Rezepte der italienischen Küche, das ganze in jedem italienischen Restaurant bis zum Überdruss zelebrierte
Programm von Antipasti, Paste sowie Carne e Pesche – und hinterher für die Gäste noch einen Grappa, einen Limoncello oder einen Averna! Sicher, er kochte auf hohem Niveau und mit den besten Materialien, aber es war die klassische italienische Küche, keinen einzigen Schritt weg von Mammas Herd und all dem, was er in der Familie seit Kindesbeinen gelöffelt hat! Und genau das wollte ich nicht, nein, auf gar keinen Fall!

    All diese Worte sprudeln geradezu aus ihr heraus, sie spricht noch immer sehr lebhaft, als wollte sie den herrlichen Furor der letzten Nacht mit ihrem Reden am Leben erhalten. Ich komme nicht einmal dazu, eine Frage zu stellen, ich höre nur zu.

    Lucio ignorierte also meine Ideen, sie interessierten ihn nicht, für ihn stand seit langem fest, was er wollte. Sein Restaurant benannte er noch nach mir, »Alla Sophia«, aber mein Name war nur ein Schmuck, der geheimnisvoll wirken und schillern sollte. Und als es dann ernst wurde und losging, stand ich neben ihm in der Küche und rieb Parmesan über die Pasta und hobelte Trüffeln und schnitt den Speck klein, der in die abscheuliche Carbonara-Sauce gehörte. Von Tag zu Tag wurde ich lustloser und phlegmatischer, denn ich begriff, wie ich enden würde. Mit vier Kindern (immerzu sprach Lucio genau von vieren, wieso denn vier? – fragte ich mich), mit unendlich viel Arbeit in der Küche, mit der Betreuung seiner betagten Eltern, mit einem Großfamilienhaushalt von kaum überschaubar vielen Personen, von denen die meisten nur herumsitzen und sich bedienen lassen würden. Da war es vorbei mit dem liebenswürdigen Lucio! Da wurde er streng und entschieden! So wollte er das, und er wollte sich im Grunde keineswegs quälen, sondern eine Stelle an seiner
Seite mit jemandem besetzen, der sich um alles kümmert! Genau das aber wollte ich nicht! Und – was soll ich sagen? Wir spürten dann beide, dass dieses Restaurant uns trennte, die Auseinandersetzungen nahmen zu, und wir redeten miteinander wie in vielen gemeinsamen Jahren müde gewordene Eheleute, und das, bevor wir überhaupt verheiratet waren. Eigentlich, dachte ich damals, hattest Du doch nie vor zu heiraten, und jetzt gibst Du nach und lässt Dich vielleicht ein auf vier Kinder und

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