Das Kind, Das Nicht Fragte
schon wieder? Hat sie davon erzählt?
– Nein, hat sie nicht.
– Na, Du bist wirklich ein begnadeter Hellseher. Denn es stimmt: Paula ist früher in jeder Woche mehrmals ins Kino gegangen. Es kam nicht darauf an, welche Filme gerade liefen, sie interessierte sich einfach für alle. Manchmal machte sie auch eine Liste mit neuen Filmen, und die gab sie dann den Betreibern des kleinen Kinos, und die kamen ihr dann und wann entgegen und ließen einige ihrer geliebten Filme dann wirklich laufen. Sie liefen aber nur zwei, drei Tage, denn niemand, aber auch wirklich niemand in Mandlica wollte sich anschauen, wie Catherine Deneuve die Männer verführt, während Paula noch glaubte, es interessiere vor allem die Männer von Mandlica brennend, wie eine so blonde, große und attraktive französische Frau wie Catherine Deneuve Männer verführt. Der springende Punkt war,
dass die Männer von Mandlica nicht heimlich ins Kino gehen konnten, denn das kleine Kino lag direkt gegenüber dem Dom auf dem Domplatz, und im Ort registrierte man natürlich genau, welche Männer hineingingen. Da war nichts zu machen. Die Männer scheuten sich einfach, solche Filme zu sehen, denn ihre Frauen hätten es erfahren, und das wäre dann kein Spaß mehr gewesen.
– Was ist aus diesem Kino geworden? Werden noch Filme in Mandlica gezeigt?
– Aber nein, das ist längst vorbei. Der schöne, kleine Kinosaal gegenüber dem Dom ist geschlossen und seit Jahren verwaist.
– Paula hat diesen Saal sehr gemocht.
– Ja, mein Herr Hellseher, sie hat diesen Saal mit seinen dunkelroten Samtvorhängen und den kleinen, knarrenden Klappstühlen sehr gemocht. Sie saß immer auf demselben Platz, mitten in der neunten Reihe, und manchmal hat sie mich mitgenommen, und wir saßen dann oft allein in einer Vorstellung und haben geraucht, was das Zeug hielt. Damals haben wir noch beide geraucht, auch das ist vorbei. Keine Filme mehr und keine französischen Zigaretten, das Leben ist immer asketischer geworden.
– Wie groß ist denn der Kinosaal?
– Groß? Er ist nicht besonders groß. Das Kino hatte nur fünfzehn Reihen, es war ein kleiner Saal mit einem dunkelblauen, muffigen Teppich, aber er hatte sogar ein Foyer, ein richtig schönes Foyer aus den fünfziger Jahren, in dem sich damals nur die Kasse und die Garderobe befand.
– Das Kino ist aus den fünfziger Jahren?
– Ja, alles ist aus den fünfziger Jahren. In den Toiletten sind die Waschbecken im Stil der fünfziger Jahre so groß, dass man Kleinkinder darin baden könnte! Sie sind wirklich großzügig und
schön, diese Waschbecken! Immerzu hieß es, dass man sie austauschen werde gegen elegantere, kleine, denn heutzutage sind die Waschbecken ja so klein, dass höchstens noch eine Handvoll Wasser hineingeht. Auch so ein Irrsinn, die fortschreitende Zivilisation ist ein einziger, dummer Irrsinn!
Ich unterhalte mich weiter sehr gern mit Maria, und sie redet noch mehr als früher. Ich vermute, dass sie derart viel redet, weil sie sich noch nicht traut, mir von Lucio und ihrer Heirat zu erzählen. Jedes Mal redet sie über Paula und findet irgendein besonders, spezielles Thema für ihren Monolog, so dass ich Morgen für Morgen, wenn wir im Innenhof zusammen sind, Paula-Monologe zu hören bekomme. Von diesen Monologen merke ich mir jedes Detail, und so erweitert sich das Bild, das ich von Paula habe.
18
E NRICO BONNI hat wegen eines Termins für das Mittagessen im Alla Sophia nachgefragt, und ich habe ihm drei Termine genannt. Die Einladung wurde dann per Telefon fest vereinbart, und so werde ich nun bald wieder in den Genuss von Lucios Kochkunst kommen. Seit ich mit Paula zusammen bin, habe ich sein Restaurant nicht mehr aufgesucht. Ich weiß nämlich noch nicht, wie ich ihm begegnen und was ich mit ihm reden soll. Hinzu kommt, dass ich noch keine Vorstellung von seiner
Person habe, ich sehe bisher nur einen etwas unsicheren Mann mit leicht sentimentalem Hang zu allem Schönen, Guten und Wahren.
In meinen Augen besteht eine kleine Sensation dieser Tage darin, dass Maria mir in der Pension einen Brief überreicht, der dort für mich abgegeben wurde. Es ist ein kleiner Brief mit einem hellblauen Umschlag, und die Schrift auf der Vorderseite ( An den verehrten Professore Merz ) ist nicht von Hand, sondern wurde anscheinend auf der Tastatur eines Computers getippt. Auch der Brief ist mit Computer geschrieben, und diese Schrift stammt offensichtlich von Adriana Bonni. Sie bittet mich um ein Gespräch,
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