Das Kind, Das Nicht Fragte
jede Nacht. Wenn es dieses Stück Land nicht gegeben hätte, wäre ich wohl nicht auf Sizilien geblieben. Ich liebe Sizilien, ich liebe es sehr, ich kann mir nicht vorstellen, es je zu verlassen, aber ich wollte immer auch ein Stück von dieser großen, alten Fantasie wirklich besitzen. Nur für mich. Ein Stück Insel. Hat es nicht etwas Griechisches, wirkt es nicht wie eine kleine Einheit aus sizilianischem und griechischem Inselleben? Ich bin in Inseln vernarrt, weißt Du. Wenn ich einen Wunsch äußern dürfte, dann wäre es der, alle Inseln des Mittelmeers einmal zu besuchen. Die spanischen, die italienischen, die afrikanischen, die türkischen, die zypriotischen, vor allem aber natürlich die griechischen – mein Gott, lach mich nicht aus, ich wäre neugierig auf jede Einzelne. Schon als Kind habe ich Inseln gezeichnet und eigene Inselsprachen erfunden, nur für mich, denn natürlich war ich auf all meinen herbeifantasierten Inseln allein. Aber jetzt setz Dich, setz Dich doch, lass uns ein wenig plaudern, bevor wir ins Meer gehen. Was möchtest Du trinken? Hast Du Durst? Es ist seltsam, aber ich habe hier nur selten wirklichen Durst, ich trinke meist frisch ausgepressten Limettensaft, möchtest Du das, frisch ausgepresst, mit ein klein wenig Zucker und frischem Wasser, recht kalt?
Sie ist plötzlich so gesprächig und lebhaft, wie ich sie zuvor noch nie erlebt habe. Die Nähe des Meeres, die Schönheit des unglaublich offenen und doch anschmiegsamen
Raumes – das alles strahlt auf sie ab und weckt ihr ganzes Temperament. Hier, auf dieser entrückt liegenden Insel, fühlt sie sich frei, ja, sie fühlt sich vollkommen und unbegrenzt frei. Es gibt keine Kontrollen, Beobachter und Mitwisser mehr, diese Insel gehört nur ihr, hier ist sie Königin und Gesetzgeberin. Sie bestellt ihre eigene Wirtschaft und treibt einen eigenen Handel, und die vielen Bücher sind ihre sizilianische Schule und Universität.
Ich setze mich, und sie geht zum Eisschrank und entnimmt ihm eine große Karaffe mit Limettensaft. Mit der Karaffe und zwei Gläsern kommt sie wieder nach draußen und schenkt mir ein. Wir heben unsere Gläser und trinken behutsam, es sieht so aus, als führten wir ein sehr kostbares, rares Getränk zum Mund, ein aphrodisischer Trank, ein Zaubertrank, denke ich kurz und erinnere mich wieder an Bilder der Odyssee: Odysseus und die Nymphe Kirke, die ihn bei sich behalten und nie mehr loslassen will. Der Saft hat eine feine, genau austarierte Balance von Bitterem und Süßem, er ist sehr kalt, und er schmeckt mir ausgezeichnet. Ich wette, sie hat auf dieser Insel auch eine eigene Küche kreiert, Speisen und Getränke, die man nur hier bekommt, und das meiste aus ihrem Anbau, denke ich weiter. Da aber sagt sie auch schon, als könne sie meine Gedanken lesen:
– Die Limetten sind aus diesem Garten. Ich habe hier meine eigene, kleine Küche, mit lauter Rezepten, die mir zu diesem Stück Land eingefallen sind. Ich könnte ein kleines Restaurant mit all diesen Gerichten eröffnen, und wer weiß, vielleicht werde ich das sogar einmal tun.
Ich erinnere mich daran, dass sie zu Beginn ihres Sizilien-Aufenthaltes mit Lucio zusammen gewesen ist und in seinem Restaurant gearbeitet hat, aber ich bin wieder zu vorsichtig und will nach diesem Anfang nicht fragen. Sie aber redet weiter, als hätte sie auch diese Gedanken lesen können:
– Du denkst jetzt an Lucios Restaurant, stimmt’s? Und Du fragst Dich, warum ich dort nicht meine Gerichte präsentiere. Ich will Dir das rasch erklären, dann haben wir auch das hinter uns. Ich kam nach Sizilien als eine junge Frau mit tausend Ideen, und noch während ich mit Maria die Insel bereiste, wollte ich schon länger bleiben. Warum? Sizilien war ein Stück Italien, wie ich es liebte, und es war ein noch größeres Stück Griechenland, das ich ebenfalls liebte. Italien und Griechenland waren die Länder, in denen ich mich zu Hause fühlte, ich beherrsche sogar ihre Sprachen, ja, ich spreche Italienisch und auch etwas Griechisch. Wie wir dann hier gestrandet sind, hat Dir vermutlich Maria erzählt, ich habe Lucio wenige Minuten nach unserer Ankunft in einer Bar am Corso centrale kennengelernt und mich von einem Moment in den andern in diesen sehr liebenswürdigen Menschen verliebt.
Liebenswürdig, ja, das war er, ich kann seine Art nicht anders benennen als mit diesem altmodischen Wort. Mir kam es so vor, als hätte er genau auf mich gewartet und als machte er mir nach seinem
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