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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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ich es ziemlich erschütternd. Nicht, dass solche Sachen nicht immer irgendwie erschütternd wären, aber … na ja …«
    »Wegen Blake, meinst du? Der ist immer so, zu allen. Ich hab dir doch gesagt, er ist ein Schwachkopf. Interessiert sich nur für sich selbst, alle anderen sind ihm egal.«
    Karen schüttelte den Kopf. »Nicht seinetwegen. Von den Leuten, mit denen ich so zu tun habe, erreicht er auf der Fieslingsskala gerade mal eine Sieben. Und außerdem«, sie drehte ihre Tasse hin und her, »bin ich mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt stimmt.«
    »Dass er ein Schwachkopf ist?«
    »Nein. Das auf jeden Fall. Ich meine, dass ihm alle anderen egal sind.«
    Leo runzelte die Stirn. Er wollte Karen fragen, was sie damit meinte, aber sie griff in die Tasche zu ihren Füßen und kramte mit konzentriertem Blick darin. Dann sah sie sich kurz um – die Tische um sie herum waren leer, bis auf zwei Mütter mit ihren Babys und ein älteres Paar, das sich ein Stück Karottenkuchen teilte – und schob schließlich einen A4-Umschlag über den Tisch.
    »Was ist das?«
    »Das habe ich gefunden. Oder eher bekommen. Schau mal rein.«
    Leo öffnete den Umschlag und zog ein paar Seiten heraus. »Was ist das?« Er blätterte sie von vorn bis hinten durch. »Es gab eine Untersuchung? Warum haben wir nichts davon erfahren?« Er sah das Datum und legte den Finger darauf. »Das war ja danach. Nach Daniels Festnahme. Warum wurden wir nicht darüber informiert?«
    Karen zog eine Schulter hoch. »Ich nehme mal an, so was müssen sie dir nicht sagen.«
    Leo las, sog die Worte aber zu schnell auf, um sie wirklich zu verstehen. Er sah Karen an. »Woher …«
    »Ich habe einen Freund.«
    Leo sah noch einmal auf den Bericht. »Da hat er aber einiges riskiert, als er dir das gegeben hat.«
    »Wir kennen uns sehr gut.«
    Leo hob den Kopf. Karen senkte ihn.
    »Und außerdem hilft es uns auch nicht sehr viel weiter. Nicht so, wie du es vielleicht erwartest.«
    Leo las laut vor: »›Eindeutige Hinweise auf Missbrauch konnten nicht gefunden werden.‹« Er überflog ein paar Absätze. »›Eine Eintragung von Daniel in das Kinderschutzregister erfolgt nicht.‹«
    »Und hier. Sieh dir das an.«
    Leo folgte Karens Fingerspitze. »›Es konnte keine Verbindung zwischen etwaigen Missbrauchshandlungen und der fraglichen Tat hergestellt werden.‹« Er sah auf. »In anderen Worten …«
    »›Wir sind nicht schuld. Wir lassen uns das nicht anhängen.‹«
    Leo schniefte. »Na, dann ist ja alles gut. Solange den Sozialdiensten keiner an den Karren fahren kann, ist ja alles in Butter. Die haben ihre Jobs sicher.«
    »Mein Freund meinte, die Ermittlung sei nicht gerade umfassend gewesen. Aber darum ging es ja gerade«, sagte Karen. »Sie war ein regelrechtes Lehrstück: Wie weise ich alle Schuld von mir?«
    Leo pfefferte den Bericht auf den Tisch. »Aber sie hätten uns trotzdem darüber informieren müssen. Selbst wenn es nicht bei Daniels Verteidigung hilft, haben sie doch eine moralische Verpflichtung …«
    »Langsam.« Karen sammelte die Blätter auf und blätterte sie nachlässig durch. »Es hilft nicht so, wie man vielleicht erwarten würde. Aber das heißt ja nicht, dass es uns gar nicht hilft. Lies mal hier!«
    Sie schob ihm die Blätter hinüber.
    »Aber das wussten wir doch schon«, sagte Leo nach einer Weile. Daniel war als Kleinkind oft in der Notaufnahme gewesen: zweimal nach einem »Sturz«, einmal, nachdem er Haushaltsreiniger getrunken hatte, und ein viertes Mal, nachdem er starke Antidepressiva verschluckt hatte. Er habe sie für Bonbons gehalten, hatte Daniels Mutter damals erklärt, und damit hatte man sich wohl zufriedengegeben. »Es wurden Nachforschungen angestellt«, sagte Leo. »So steht es hier. ›Die Vorfälle gaben Anlass zur Beunruhigung, was sich jedoch als unbegründet erwies.‹«
    »Unbegründet«, wiederholte Karen. »Also bitte. Ein Kind hat in den ersten sechsunddreißig Lebensmonaten vier beinahe tödliche Unfälle, und die Sozialdienste sehen keinen Grund zur Beunruhigung.«
    »Aber sie müssen ja schon mal genauer hingeschaut haben. Fragen gestellt haben.«
    »Aber wohin genau sie geschaut haben, darum geht es. Welche Fragen sie gestellt haben und wem.« Karen schüttelte den Kopf. »Ich will gar nicht dem Jugendamt die Schuld geben«, sagte sie, nicht ganz überzeugend. »Die haben zu wenige Mittel, zu wenig Personal, zu wenig Anerkennung. Aber was ich meine: Irgendwas war da eindeutig faul. Vielleicht

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