Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
Untertassen weitermachen sollte, aber da war er schon nicht mehr allein im Raum.
Was ist passiert? Was ist los? Alles in Ordnung, Mr. Curtice? Der Moment ging vorüber. Die Raserei. Leo atmete ein und musste fast lachen. Es ist in Ordnung, sagte er, alles ist in Ordnung, und dann ging er über die knirschenden Scherben und holte einen Besen.
Am Ende beschlossen sie, das Phantombild zu veröffentlichen.
Leo beobachtete seine Frau, während sie das Bild betrachtete, und wusste genau, dass sie es nicht gelungen fand. Aber das war die wievielte, die fünfte Version? Sie sah genauso aus wie die erste, die wiederum keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann hatte, den Leo sich vorgestellt hatte. Nicht, dass das von Belang gewesen wäre. Megan hatte das Gesicht am Fenster gesehen: den Mann, der, wie sie annahmen, ihre Tochter entführt hatte. Leos Instinkt sagte zwar etwas anderes, aber es blieb ihnen nichts weiter übrig, als dem von Megan zu vertrauen.
»Der Bart stimmt«, sagte Megan, genau wie die letzten fünf Male. »Aber der Rest …« Sie schloss die Augen, als wollte sie sich das Gesicht vor Augen zu rufen. Dann öffnete sie sie wieder, blickte finster auf die Zeichnung. »Vielleicht doch die erste Version. Oder …« Sie sah zu den Polizisten hinüber, die nebeneinander am Küchentisch saßen. Die beiden tauschten einen Blick.
»Lassen Sie sich Zeit, Mrs. Curtice.«
Wieder starrte sie auf das Bild. »Nein«, sagte sie schließlich und schob das Blatt Papier zu ihnen hinüber. »Das hier ist es. Besser kann ich ihn nicht beschreiben.«
Noch einmal sahen sich die beiden Polizisten an. Detective Superintendent Bromley, der etwas ältere von beiden, deutete ein Nicken an.
»Zwei Augen und ein Bart, mehr ist das nicht«, hörte Leo den Junior Detective später flüstern. »Nimm den Bart weg, und wir suchen nach einem Ei.«
Jemand lachte. »Können wir nur hoffen, dass er sich nicht rasiert.«
Megans Bruder schlief auf der Couch. Ihre Mutter im Gästezimmer. Megan schlief, wenn man das so nennen konnte, in Ellies Zimmer. Das hätte sie so oder so getan, sagte sich Leo.
Eine Woche verging.
Es gab ein paar Anrufe, aber nichts von Bedeutung. Es kamen Briefe, aber solche nicht mehr. Es gab zwar keinen Grund dafür, aber irgendwie war heute der Tag, auf den sie hingearbeitet hatten. Genauer gesagt der Tag, dem sie sich entgegengestemmt hatten.
Es fühlte sich nicht anders an. Es war dasselbe Gefühl wie gestern, dasselbe wie morgen. So, als würde es sich nie mehr anders anfühlen, und als Leo aufstand und, noch im Dunkeln, nach der Bettdecke tastete, die er in der Nacht von sich gestrampelt hatte, fragte er sich, ob das wohl stimmte. Was sich ändern würde und wann. Wie lange es dauern würde, bis Annie nicht mehr kam, bis Peter wieder nach Hause fuhr und Megans Mutter abreiste und Megan mitnahm. Was er tun würde, wenn Megan ging. Ob es ihm überhaupt noch zustand, sich darüber Gedanken zu machen.
Am häufigsten kreisten seine Gedanken um Ellie – wie lange er es noch aushalten würde, sich Gedanken über sie zu machen. Denn abseits vom Druck irgendeiner willkürlich gesetzten Frist spürte Leo, dass ihm bald etwas Größeres, Umfassenderes drohte. Es war, als wäre ihm ein wildes Tier auf den Fersen, von dem er wusste, dass er es sich nicht für ewig vom Leib halten konnte. Er konnte es zwar noch nicht sehen, aber er roch es und ahnte, wie es sich anfühlen würde, wenn es ihn an der Kehle packte. Es war das Akzeptieren. Die Sicherheit. Es war das Wissen, nicht die Vermutung, dass seine Tochter schon tot war.
21
A ls Leo eintrat, wurde es still im Raum. Er blieb kurz stehen und zog es in Erwägung, wieder umzudrehen. Von den Leuten an ihren Arbeitsplätzen schien niemand Leo in die Augen sehen zu wollen – weder John noch Alan oder Stacie. Es war auch eine von den Zeitsekretärinnen da – Amy, hieß sie so? –, und als sie Leo bemerkte, lächelte sie, kaum merklich zwar, aber es genügte, um Leo doch zum Reingehen zu bewegen. Er nickte, lächelte zurück und wagte ein kratziges »guten Morgen«. Mit gesenktem Kopf ging er auf seinen Schreibtisch zu.
John murmelte einen kurzen Gruß. Alan ebenfalls, er nickte kurz und brachte sogar Leos Namen heraus. Leo grüßte ihn auf dieselbe Weise. Er stellte die Aktentasche neben seinem Schreibtisch ab, machte sich mit kalten, steifen Fingern an den Knöpfen seines Mantels zu schaffen und schälte sich schließlich heraus. Er schüttelte den Mantel aus,
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