Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
trug sie nicht einmal eine Brille. Sie habe in der Bonhay Road ein Mädchen gesehen, das Ellies Beschreibung entspreche. Zwei Mal sogar, deshalb sei es der Zeugin aufgefallen. Das erste Mal sei die junge Frau in Begleitung von jemandem gewesen, beim zweiten Mal offenbar allein. Einem Mann, fügte Annie hinzu, bevor sie fragen konnten: Das Mädchen war mit einem Mann unterwegs. Die Zeugin konnte nichts weiter über ihn sagen, außer dass er groß und kräftig war und deutlich älter als das Mädchen. Aber das Mädchen. Größe, Frisur, Schuhe, Mantel – alles passte. Und das war gestern gewesen. Am späten Abend. Was bedeutete …
Das brauchte man ihnen nicht zu sagen. Wenn es stimmte, bedeutete es, dass ihre Tochter vor zwölf Stunden noch am Leben gewesen war.
Und: »Sie war mit jemandem zusammen«, sagte Leo. »Aber dann nicht mehr.«
Was vielleicht auch etwas zu bedeuten hatte.
Sie suchten hinter jeder Tür, in jedem Durchgang und in jedem Garten.
Über hundert Polizisten, sagte man ihnen, der größte Polizeieinsatz im County in den letzten … Nun ja. Annie warf einen kurzen Blick zu Leo. Seit einiger Zeit jedenfalls. Auch Freiwillige beteiligten sich. Die Art von Leuten, die den Curtices seit neuestem Briefe schrieben. Man hatte natürlich auch vorher schon gesucht, aber nicht in einem so eng begrenzten Bereich. Vor der Sichtung waren die Polizisten überall verstreut gewesen: in den Straßen rund um Ellies Schule, aber auch im Ödland entlang der Exe und zwischen den Lagerhallen in den Ecken der Gewerbegebiete. In anderen Worten: auf Müllkippen. An Orten, wo sich etwas in der Größe eines Mädchens leicht entsorgen ließ. Aber jetzt hatten sie eine Spur. Eine Chance, das schwang unausgesprochen mit, tatsächlich etwas zu finden.
Die Suche dauerte den ganzen Tag. Bis in die Nacht sogar, und ein Hubschrauber, den die Metropolitan Police zur Verfügung gestellt hatte, begleitete mit seinem Scheinwerfer die Beamten, die, zu einer Kette aufgereiht, das Gebiet durchkämmten. Wenn Leo und Megan fragten, wie sie helfen konnten, bekamen sie immer dieselbe Antwort: weiter Tee trinken. Zähneknirschend gehorchten sie, aber nur, weil sie dazu in den Wohnwagen durften, der als Einsatzzentrale fungierte. Von ihren Plätzen in einer schummrigen Ecke aus hörten sie alles Nötige und noch einiges mehr, was ziemlich sicher nicht für ihre Ohren bestimmt war. Dass man das Mädchen gefunden habe, zum Beispiel. Dass ihr Name Caitlyn war. Dass sie am Vorabend mit ihrem Freund unterwegs gewesen war, von dessen Existenz ihre Mutter nichts wusste, und sich mit ihm gestritten hatte. Dass sie ihr zum Verwechseln ähnlich sah, Sergeant, aber sie war es nicht. Jetzt könne man wohl eigentlich nur noch Taucher in den Fluss schicken, befand der Sergeant.
Schlimmer konnte es nicht werden. Nein, bestimmt nicht. Die Füße versanken im Schlamm, Wind und Regen peitschten auf die Haut, und dann würde gewiss gleich einer der Taucher mit der Leiche seiner Tochter an die Oberfläche kommen. Nicht, dass der Schlamm von Bedeutung gewesen wäre. Nicht, dass das Wetter von Bedeutung gewesen wäre. Und er musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, wie viel schlimmer die Dinge im nächsten Augenblick stehen konnten.
Sie redeten über die Strömung. Dass das Wasser ruhig aussehen mochte, aber in den tieferen Schichten, um diese Jahreszeit … Sie schüttelten den Kopf. Irgendjemand sah zu Leo hinüber; ihm war nicht klar gewesen, dass er so nah stand. Leo zitterte und blickte auf den Fluss.
Die Fingerabdrücke am Briefkasten waren die des Briefträgers. Die Schuhabdrücke vor dem Fenster ließen sich kaum verwerten. Auf einem der Drohbriefe war ein Daumenabdruck, aber ein Daumenabdruck ohne den dazugehörigen Daumen nützte ungefähr so viel wie … nun ja …
Der Satz blieb in der Luft hängen.
Am fünften Tag, in der Küche, zerbrach er die Tassen. Jede einzelne, und er begann mit der in seiner Hand. Sie war voll Tee, um den er nicht gebeten hatte und den er auch nicht wollte. Also brachte er ihn in die Küche und überlegte, wo er ihn abstellen könnte, aber er wollte ihn eigentlich auch nicht abstellen, sondern wegschleudern.
Er warf die Tasse gegen den Herd. Dann öffnete er den Schrank, griff an den Untertassen vorbei und schleuderte auch die restlichen Tassen gegen den Herd.
Bis.
Zur.
Letzten.
Das Geräusch tat gut. Und auch das Werfen selbst. Als er mit den Tassen fertig war, überlegte er kurz, ob er mit den
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