Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)
hielt ihn vor den Körper und drehte sich um, um ihn über die Stuhllehne zu hängen. Aber sein Stuhl war nicht mehr da. An seiner Stelle stand etwas Älteres, ohne Armlehnen und mit einem tiefen Riss im Schaumstoffpolster der Sitzfläche. Die Lehne wirkte so wackelig, dass Leo sich nicht sicher war, ob sie das Gewicht seines Mantels tragen würde.
»Ach so, ja.«
Leo drehte sich um.
»Ach so, ähm«, sagte Alan, der aufgestanden war und jetzt neben ihm stand. »Es könnte sein, dass Terry sich deinen Stuhl ausgeborgt hat.«
Leo blickte durch den Gang zu Terrys Schreibtisch hinüber. Leos Stuhl stand unbenutzt daneben, niedrig eingestellt und mit passendem Keilkissen und einer Lendenrolle ausgestattet.
»Ach so.« Leo betrachtete den Stuhl, den man ihm stattdessen zugeteilt hatte. Vorsichtig setzte er sich darauf und legte seinen Mantel auf den Boden. Der Stuhl quietschte bei jeder Bewegung.
»Er wollte sicher nur … Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn … Ich hol ihn dir wieder rüber, ja?«
»Bitte?« Leo sah von seinem Schreibtisch auf, auf dem sich in seiner Abwesenheit lauter Dinge angesammelt hatten, die ihm fremd waren. »Nein, lass mal. Ist schon okay.« Er nahm einen Packen Kopierpapier von seinem Mousepad.
»Hier, gib mir wenigstens den hier. Und das.« Alan benutzte den Packen Papier als Tablett, stapelte Werbepost und leere Aktenordner darauf und deckte, während er den Schreibtisch abräumte, ein Bild von Ellie auf.
Sie sahen es beide. Sie starrten beide darauf. Alan gab ein Geräusch von sich, als wäre ihm irgendetwas im Hals steckengeblieben.
Das Telefon klingelte, die externe Leitung, und Alan drehte sich um, aber John war schneller.
»Corker and Copeland«, sagte er mechanisch in den Hörer, und dabei krümmte er die Schultern, als ginge im Büro gerade ein Gewitter nieder. Unwillkürlich spannte sich Leo an. Er beobachtete John, wartete, dass er sich umdrehte, und sagte: »Leo, das ist für dich«, und auf ein Lächeln von ihm, das Leos Unbehagen vertreiben würde. Doch stattdessen sagte John: »Er ist in einem Meeting«, sah nicht einmal in Leos Richtung und bot aufgeräumt an, eine Nachricht entgegenzunehmen.
Leo schluckte. Er sah auf seinen Bildschirm. Allein um seinen Gedanken zu entfliehen, schaltete er den Computer ein. Es klackte, surrte, und Leo saß einfach nur da und wartete. Er spürte, wie sein Fokus zu verschwimmen begann, und auch dagegen hatte er nichts, denn immerhin wurde die Welt dadurch weicher, zumindest für einen Moment.
Der Computer piepste. Er wartete auf ein Passwort. Leo starrte einen Moment wie in Trance auf den blinkenden Cursor, dann legte er den Finger auf das E.
»Verzeihung. Alan?«
»Leo. Was ist los, Kumpel?«
»Ich …« Leo zeigte auf seinen Arbeitsplatz. »Ich habe nur gerade ein paar Akten gesucht. Vom Fall Daniel Blake. Ich dachte, ich hätte sie auf meinem Schreibtisch liegen lassen, aber … Weißt du, ob die jemand weggeräumt hat?«
»Von dem Fall Blake?« Alan sah Leo an, als hätte er den Verstand verloren. »Bist du deshalb … also …« Er fasste sich wieder. »Kann sein, dass Howard die hat. Oder, ähm, Terry.« Als er den Namen aussprach, drehte er sich schnell weg, vielleicht in der Hoffnung, Leo würde ihn nicht richtig verstehen. Er deutete mit dem Kopf zu Howards Büro. »Howard ist in einer Besprechung mit Jenny, sie gehen irgendwelche Unterlagen durch, aber Terry …«, er reckte sich nach der Uhr an der Wand, »Terry müsste eigentlich jeden Moment …«
»Leo?«
»Ah!«, sagte Alan und machte eine Handbewegung. Er strahlte Leo an, ließ sich auf seinem Stuhl nieder und begann sofort, sich mit etwas – egal was – aus seinem Posteingang zu beschäftigen.
Terry kam näher und zerrte dabei an seinem Schal. Er legte den Kopf ein wenig schräg, zum Teil offenbar wegen seines Schals, aber auch so, als traute er seinen Augen nicht. Vorsichtig streckte er Leo die Hand entgegen, und Leo nahm sie.
»Leo? Was machst du denn hier? Ich dachte, du … na ja …« Terrys Blick blieb an irgendetwas hinter Leos Schulter haften. Leos Stuhl? »Aber erzähl doch mal, wie geht es dir?«, fragte Terry. »Und Mandy? Deiner Frau. Wie packt ihr das alles? Gibt’s irgendwas Neues?«
»Wir kommen klar. Danke, Terry.«
Terry brauchte einen Moment, um über Leos Antwort nachzudenken. »Gut«, sagte er. »Das ist …«
»Ich habe gerade schon Alan gefragt. Wegen der Blake-Akten. Weißt du vielleicht, wo ich die finde?«
»Die
Weitere Kostenlose Bücher