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Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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konnten. Doch die Neaaner schienen jede unserer Bewegungen zu kennen; immer wieder verloren wir sie aus den Augen, sie aber verloren uns nicht und schnitten uns den Fluchtweg ab. Wir kannten uns im unebenen Hochland nicht aus, hatten uns bald verirrt und waren verstreut, und am Ende ritten nur noch Etaa und ich zusammen – doch die Soldaten folgten uns wie Hunde einer Fährte.
    Bis uns schließlich die starren, schwarzgestreiften Wände einer Schlucht an das Ende unserer Flucht brachten. Wir standen am Rande eines Abgrundes, wo das Schmelzwasser hinabstürzte ins Vergessen, und es gab keinen Ausweg mehr. Mein Pferd sank in die Knie, und ich glitt von seinem Rücken, um hinabzusehen. Der Abhang war steil, mehr als hundert Fuß bis zu den silbrig-nassen Felsen unten. Ich drehte mich um, von Verzweiflung überwältigt. Folgen sie uns immer noch?
    Ja! Etaa warf sich vom Pferd, ihr buntes Kleid war schlammbedeckt, die Sommerblumen waren aus ihrem Haar gerissen. Sie klammerte sich an mich, schwer atmend, dann sah sie in die buschbewachsene Schlucht. Mutter, sie kommen, sie kommen immer noch! Wie können sie uns folgen, wenn sie uns nicht sehen können? Sie zitterte wie ein gefangenes Tier. Warum, Hywel, warum tun sie das?
    Ich berührte ihre blutende, zerkratzte Wange mit meiner zerkratzten Hand. Ich weiß nicht. Aber … Meine Hände versuchten, die Worte einzuschließen. Du weißt doch, was sie mit uns machen, wenn sie uns fangen.
    Ihre Augen schlossen sich. Ich weiß … Voller Angst schlang sie die Arme um ihren Körper.
    Und dann werden sie uns bei lebendigem Leib verbrennen, damit unsere Seelen niemals Ruhe finden! Ich warf einen Blick in den Abgrund, jetzt zitterte auch ich. Etaa … Sie hatte die Augen wieder geöffnet und folgte meinem starren Blick.
    Müssen wir? Sie preßte die Hände gegen ihren Bauch, unser Kind liebkosend.
    Nun sah ich die Reiter wie einen unruhigen, verschwommenen Fleck hinter uns in dem überschatteten Hohlweg. Wir müssen. Wir können uns nicht fangen lassen!
    Gemeinsam traten wir an den Rand der Klippe und sahen hinab, aneinandergeklammert und schwindelig aus Angst vor der Tiefe. Etaa streute schnell eine Handvoll Erde aus und betete zur Mutter. Sie sollte wissen, was geschah, und uns empfangen. Dann sah sie zu mir auf, zitterte aber so heftig, daß ich sie kaum verstehen konnte. Oh Hywel, ich fürchte mich so vor der Tiefe … Ihr Mund zuckte, man hätte glauben können, daß sie lachte. Dann zog sie meinen Kopf zu sich herab, und wir küßten uns lange und süß. Ich liebe dich allein, jetzt und immer. Jetzt und immer, signalisierte ich. Ich sah in ihren Augen, daß die Zeit auslief. letztlich fühlte nach ihrer Hand, sah die Soldaten am Anfang des Hohlweges, ihr betroffenes Gesicht und dann – nichts. Ich sprang.
    Und fühlte im letzten Augenblick ihre Hand sich aus meiner losreißen. Durch die kalt über mir zusammenstürzende Ewigkeit sah ich ihr Gesicht hinauffallen, umrahmt von dunklem Haar. Dann schlug mein Körper auf die Felsen unten auf, und die bittere Qual entschwand meinem Sinn.
    Warum ich überhaupt wieder aufgewacht bin, weiß ich nicht; auch nicht, warum ich noch lebe – ich würde gern sterben und meine Pein beenden. Jetzt bin ich in einen Alptraum erwacht, gefangen in diesem zerbrochenen Körper voller Scham, denn ich weiß, daß ich gesprungen bin und Etaa nicht. Ich habe zugelassen, daß sie von den Neaanern ergriffen wurde. Ich folterte meine Augen, um irgendein Zeichen zu erkennen, irgendeine Bewegung über dem schwarzgestreiften Abhang, doch ich sah nichts, nur den gleißenden Saum des Tages, das rote Auge von Cyclops. Etaa war verschwunden. Der Wasserfall sprang und schäumte neben mir, verspottete meinen Schmerz und netzte meinen wehen Mund mit kalten Silberperlen. Ich drehte meinen Kopf so weit, daß mein metallenes Halsband mir in die Kehle schnitt, doch nichts rührte sich. Und schließlich blieb ich still liegen und betete, halb im Traum, halb im Wahn, und konnte nicht einmal ihren Namen formen: Etaa, Etaa … vergib mir!
    Über mir zogen sich purpurgraue Wolken zusammen und verdunkelten den Mittag; die Mutter raffte in Ihrem Gram die Gewänder dicht um Sich und wies Ihren Gatten zurück. Die Ernte wird schlecht sein. Sie hat Ihre Kinder verflucht wegen dieser Schändlichkeit, wegen der unerträglichen Gotteslästerung der Neaaner, wegen der erbärmlichen Schwäche Hywels, der Ihr Geliebter war und Ihr Sohn. Sie zerfetzt die Wolken mit Messern aus Licht,

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