Das Kind der Priesterin
schreit nach Rache, und Ihre Tränen fallen kalt und blenden mein Gesicht. Ich ertrinke in Ihren Tränen, ich ertrinke in Ihrem Kummer … Mutter! Könnte ich nur einen Finger mehr bewegen, um Dein Zeichen zu schlagen … Lebensspenderin, laß mich leben! Gib mir meinen Körper wieder, und ich will Dir die Köpfe der Neaaner bringen. Ich werde diese Entweihung rächen, rächen. Deine Priesterin … meine Etaa … Mutter, höre mich …
Wer berührt mein Gesicht? Seht, Augen! Verdammt … Lächeln, weil ich noch am Leben bin … sie tragen Rot und Schwarz. Es sind die Männer des Königs! Und sie werden mir meine Seele nehmen. Mutter, laß mich vorher sterben. Nein, vereine mich mit meiner Etaa, auf dem Wind. Und sei uns gnädig …
Der König
Diese Armee ist kaum eines Königs würdig … Doch dieser Tage verkündet Erzbischof Shappistre meinem Volk in aller Öffentlichkeit, daß König Meron behext sei – und sie glauben ihm. Sie glauben alles, was die Kirche ihnen erzählt. Mein armes Volk! Aber wer kann ihnen Vorwürfe machen, wo mein einziges Kind verloren ist und die Kedonnyer Tramaine zerfressen, während die Götter nichts tun? Doch wenn ich den Zorn der Götter deshalb geweckt habe, weil ich die kedonnysche Hexe haben wollte, wenn ich mich dadurch selbst ruiniert habe, so nicht, weil ich nicht mehr Herr meines Verstandes war, sondern das Gegenteil war der Fall, und ich wußte genau, was ich tat.
Und dennoch, wenn ich zurückblicke und mir überlege, wie ich an diesen Punkt gelangt bin, so war vielleicht doch eine Art Hexerei im Spiel. An dem Tag nämlich, an dem ich sie zuerst sah, kam mir die Idee zu dem Plan – als ich beobachtete, wie sie mit den kedonnyschen Händlern in das Grenzdorf ritt: meine Schwarze Hexe, meine Etaa … Der Priester des Grafen von Barys machte mich auf sie aufmerksam, sie sei eine heidnische Priesterin, und seine fetten Hände zitterten bei der Erklärung, daß diese gottlosen Kedonnyer Ausschweifungen begingen und Hören verehrten; an dieser Stelle spuckte er fromm aus. Ich griff nach meinen Augengläsern, um besser zu sehen, und fand zu meiner Überraschung kein liederliches altes Weib, sondern ein Mädchen mit frischem Gesicht, dem Massen dunkler Haare lose über die Schultern fielen.
Die Kedonnyer glauben, das Hören sei eine Gottesgabe und kein Fluch, wie unsere Kirche es auffaßt. Ich für mein Teil habe mein Leben lang die Verfahrensweisen angezweifelt, die uns lehren, wie man es unterdrückt. Warum sollten irgendwelche Götter, die doch nur unser Bestes im Sinn hatten, von uns verlangen, uns selber zu schwächen? Warum hatte mein eigener Vater wegen seiner ausgezeichneten Sehkraft Schuldgefühle und sich in meiner Mutter eine Frau ausgesucht, die kaum sein Gesicht sehen konnte – so daß ich ohne die Gläser, die mir die Götter freundlicherweise geschenkt haben, auf höchst unkönigliche Weise gegen Türen stolpern muß? In dem Augenblick, wo ich die kedonnysche Priesterin betrachtete, die als die Begabteste ihres Volkes verehrt wurde, verwandelte sich meine alte Unzufriedenheit. Plötzlich begriff ich, daß meine Nachkommen nicht unter den gleichen Schwächen und Abhängigkeiten leiden müßten. Ich würde für sie eine Mutter finden, die ihnen die Fähigkeiten mitgeben konnte, die ich nicht besaß …
Ich erwachte aus meinen Gedanken und sah die kedonnyschen Händler jäh mit zornigen Gesichtern davonreiten, während meine berittenen Soldaten fluchend gestikulierten und die Dorfbewohner sich mürrisch zwischen ihnen herumdrückten. Beinahe ohne zu denken befahl ich meinen Männern, die Verfolgung aufzunehmen.
Als mein Wagen sich über die Köpfe der gaffenden Leute in die Luft erhob, sah ich auf den gräflichen Priester hinunter, der unerklärlicherweise in einem Misthaufen herumgrub. Wenn ich ein frommer Mann wäre, dann hätte ich das als Vorzeichen genommen. Meinen Wagen hatten die Götter angefertigt, eine glatte Kugel wie aus Elfenbein, die sich nicht nur ohne Hilfe von Pferden über Land bewegen, sondern auch in den Himmel erheben konnte wie ein Vogel. Aus der Luft konnte ich die fliehenden Kedonnyer leicht ausmachen und meine Männer so führen, daß es ihnen gelang, die Frau von ihren Begleitern zu trennen – von allen, bis auf einen Mann, der auch dann noch stur an ihrer Seite blieb, als wir sie in eine Falle getrieben hatten. Doch am Ende machte er keine Schwierigkeiten, denn er stürzte sich vom Felsen, wohl aus Angst davor, lebendig
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