Das Kind der Priesterin
mich gefragt, ob nicht irgend etwas am Wildsein besser sei als am Prinzsein, und der Gedanke, daß alle Kharks verschwunden waren, machte mich traurig. Ich sah weg von Etaa und fiel in eine andere Kindheitserinnerung: Als ich beim Versteckspielen mit den Pagen unabsichtlich die Götter belauschte – und das groteske, unmenschliche Ding sah, das sie wie einen Bruder behandelten. Und irgendwie wußte ich, daß dieses Ding die wahre Gestalt der Götter war, daß die makellosen Gesichter, die sie uns zeigten, nur Vorspiegelungen waren. Ich schlüpfte davon und rannte, um es meinem Vater zu erzählen, der aber war wütend über meine Gotteslästerung, schlug mich deswegen und verbot mir, jemals wieder etwas gegen die Götter zu sagen. Ich habe es auch nie getan, denn ich fand schnell heraus, daß, wer immer sie auch sein mochten, sie doch Kräfte besaßen, die selbst ein König lieber nicht auf die Probe stellen sollte. Ich habe mich oft gefragt, ob mein Vater das auch gewußt hat. Insgeheim aber ließ ich nie von meinen Ketzereien ab, und so kam es, daß ich in den Lehren der Kirche immer weniger fand, das Ehrfurcht verdiente. Deswegen habe ich mich auch nie mit meinem Vetter, dem Erzbischof Shappistre, in Übereinstimmung befunden. Tatsächlich sähe er mich wohl gern in Tod und Verdammnis.
Nach meiner Ankunft im Palast von Newham zeigte der Erzbischof große Eile, mich über sein Mißvergnügen wegen des letzten Vorfalls in Kenntnis zu setzen. Meine gute Frau, die Königin, erschien nicht zu unserer Begrüßung, sondern ließ ausrichten, daß sie sich unwohl fühlte. Ich überlegte, ob sie wußte, daß ich eine Mätresse mitbrachte, aber da sie in fünfzehn Ehejahren selten geneigt war, mir zur Begrüßung entgegenzukommen, bedeutete es wenig. Immerhin erspähte ich ihren Bruder, den Erzbischof, unter den Edlen, die meinen Weg über den fahnengeschmückten Schloßhof säumten. Etaa ging an meiner Seite. Er war als einziger nicht erfreut, aber das war er genauso selten wie seine Schwester. Ich ahnte, daß er mich besuchen würde, noch bevor der Tag vorüber war.
Ich wurde nicht enttäuscht, denn am frühen Abend betrat mein Wächter den Raum und stand geduldig mit dem Gesicht zur Tür gewandt da, bis ich ihn bemerken und empfangen würde. Etaa schreckte bei seinem Eintreten auf, ich fing ihre Bewegung in dem Spiegel auf, den ich an der Seite meiner Augengläser befestigt hatte, und es wurde mir klar, daß mir schon ihre bloße Gegenwart nützlich sein konnte. Ich ging, den Wächter an die Schulter zu tippen, um ihm den Zutritt zu gewähren, und er informierte mich, daß der Erzbischof mit mir zu sprechen wünschte. Ich ließ ihn rufen und begab mich zurück an meinen Tisch, wo ich gewissenhaft die Berichte meiner Berater durchsah. Etaa saß auf der langen Bank neben dem Feuer und blickte, mich meidend, vor sich hin, und trotz ihres Verhaltens erschien mir die beständige Gegenwart einer Frau nach so vielen Jahren des Alleinseins seltsam beruhigend.
Der Erzbischof jedoch teilte meine Gefühle offenbar nicht. Seine hageren, asketischen Züge schienen immer in einem merkwürdigen Gegensatz zu der glänzenden Pracht seiner Gewänder zu stehen, der Blick frommer Entrüstung aber, den er bei Etaas Anblick heuchelte, grenzte ans Absurde. „Majestät.“ Die modischen Ärmel seines Talars streiften die Fliesen, als er sich tief verneigte. „Ich hoffte, mit Euch allein sprechen zu dürfen.“
Ich lächelte. „Etaa versteht das Lippenlesen nicht, Ihr könnt frei reden.“ Sein Unbehagen bereitete mir ein gewisses Vergnügen, denn er hatte mir in meiner Jugend oft genug ein Gefühl des Unbehagens bereitet … und in der letzten Zeit auch.
„Es handelt sich um diese … Frau, daher komme ich zu Euch, Majestät. Ich protestiere nachdrücklich gegen ihre Anwesenheit am Hof. Es geziemt sich wenig für unsern König, sich eine heidnische Priesterin zur Geliebten zu nehmen. In der Tat hat es einen Anflug von Blasphemie.“ Ich bildete mir ein, hungrige Flammen hinter seinen Augen aufspringen zu sehen, aber vielleicht war es nur das Feuer, das sich in seinen Gläsern widerspiegelte. „Die Götter haben mir ihr Mißfallen ausgedrückt. Und die Königin, Eure rechtmäßige Gemahlin, ist außerordentlich erregt.“
„Ich wage zu behaupten, daß die Königin, Eure Schwester, wenig Grund dazu hat, sich über mich aufzuregen. Ich habe ihr alle Liebhaber erlaubt, die sie haben wollte, und die Götter wissen, daß es nicht wenige
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