Das Kind der Priesterin
wieder umschlossen.
Wir schritten schläfrige, bunte Pfade entlang, schwer von der Hitze eines Spätsommernachmittags, und ich konnte kaum glauben, daß die Sonne schon halb versteckt war, als sie hinter Cyclops versank. Und als wir so dahingingen, sah ich zum erstenmal seit der Sonnenwende jenen verzerrten, angstvollen Ausdruck von Etaas Gesicht schwinden. Einmal trafen wir unerwartet auf den jungen Lord Tolper und seine Liebste in einer kompromittierenden Stellung im Gras; ich ergriff Etaa beim Arm und führte sie schnell davon, bevor der errötende Lord sich genötigt sah, aufzustehen und sich zu verbeugen. Als wir uns zum Gehen wandten, sah ich ein kurzes, süßes Lächeln der Erinnerung über ihre Lippen huschen, und es gab mir einen neidvollen Stich.
Da ich so wenig Zeit zu meiner Verfügung hatte, instruierte ich Mabis, Etaa in Zukunft in die Gärten zu begleiten und auch sonst alles zu tun, was für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden erforderlich war. Mabis gestand, daß sie auf Etaas Verlangen hin schon heilkräftige Kräuter für das Baby gesammelt hatte; denn – Segen über ihre Heidenseele – das Mädchen besaß die Kenntnisse von zehn Newham-Doktoren und hatte ihr sogar einen heißen Breiumschlag verraten, der der alten Frau die Rückenschmerzen erleichtert hatte. Auf ihre Weise war Mabis von tiefer Frömmigkeit, aber sie hatte nie die Königin leiden können, und Etaas unbekümmerte Freundlichkeit und ihr Mangel an Selbstgefälligkeit hatten ihr Herz gewonnen.
Am Anfang hatte Etaa wenig Kontakt mit dem Hof, teils weil ich es wünschte, teils weil auch sie es so wollte. Sie fand jedoch nach kurzer Zeit noch einen Freund im Palast, einen ähnlichen Außenseiter wie sie: den jungen Willem, einer meiner Pagen. Er war ein seltsamer, nervöser Junge mit Haaren, die so flachsfarben waren wie ihre schwarz. Er schien dauernd vor unsichtbaren Erscheinungen zusammenzufahren und manchmal sogar um die Ecke zu sehen. Er stotterte in der gehobenen wie auch der gewöhnlichen Sprache, als ob ihm nicht nur seine Zunge, sondern auch die eigenen Finger nicht gehorchen wollten. Eines Nachmittags kam ich, um Etaa in ihren Räumen zu besuchen. Ich fand ihn vor dem Feuer zu ihren Füßen sitzend, beider Gesichter waren halb in das grüne Licht der abnehmenden Eklipse getaucht, halb durch die Feuersglut gerötet. Wie aus einem Augenpaar sahen sie zu mir auf, und Willem stolperte auf seine Füße, um sich zu verneigen, wobei er kaum das Mißvergnügen über das Erscheinen seines Königs verbarg. Ich folgerte, daß Etaa ihm eine Geschichte erzählt hatte, und bat sie weiterzumachen, weil auch ich über eine kleine Abwechslung froh war. Sie nahm ihre Erzählung beinahe unbewußt wieder auf, eine kedonnysche Geschichte über ein umherwanderndes Volk, das schließlich seßhaft geworden war und eine Heimat gefunden hatte. Selbst mich bezauberte ihr Wirklichkeitssinn, wenn auch vieles wegen der Anspielungen auf die übernatürlichen Kräfte der Mutter rätselhaft blieb. Ich begriff, daß es sich um die Geschichte handeln mußte, die überlieferte, wie die Kedonnyer zur Zeit des zweiten Barthelwyddischen Königs, vor fast zweihundert Jahren, an unsere Grenzen gekommen waren.
Gleichermaßen bezauberten mich die Bewegungen ihrer Hände, sie waren so schnell und kraftvoll, verglichen mit den verfeinerten Gesten der Hofdichter, deren anmutige, bedeutsame Romanzen mich gewöhnlich zum Gähnen brachten. Gelegentlich stockte sie in ihrer Erzählung und unterbrach ihren tranceartigen Rhythmus, und ich erinnerte mich dann daran, daß sie während des Erzählens übersetzen mußte, was eine Leistung war, die meine Poeten grün vor Neid gemacht hätte.
Als die Geschichte beendet war, schickte ich Willem wieder an seine vernachlässigte Arbeit und fragte Etaa aus einem plötzlich Antrieb heraus, ob sie mich begleiten wollte, um unsere eigene Sammlung von Überlieferungen zu sehen. Sie nickte mit höflicher Neugier. Das Kind, das in ihr wuchs, schien ihr an Stelle des verlorenen Mannes etwas Neues zu lieben gegeben zu haben; deswegen vielleicht – und vielleicht auch, weil ich sie nicht mehr berührte – ertrug sie mich jetzt und schien manchmal sogar froh über meine Gesellschaft zu sein.
Ich ging voran in den Teil des Palastes, der den Göttern übergeben war. Hier hingen Gemälde in Goldrahmen und prunkvolle Wandteppiche mit frommen Szenen. Ich ging oft dorthin, weniger aus Ehrfurcht, als um den Aufbewahrungsort der heiligen Bücher
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