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Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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abgenommen, um besser lesen zu können, denn wenn Etaa zugegen war, hatte ich keine Angst, unversehens überrascht zu werden. Sie sah zu, wie ich die Gläser auf den Tisch legte, und griff plötzlich nach meinem Arm. Meron, sieh mal! Sie nahm das Ende eines schmalen, dunklen Streifens auf, der darunter gelegen hatte und sich zwischen ihren Fingern einrollte. Was ist das? Es ist wie Glas, aber so weich wie Papier. Und schau her! Winzige Wörter, unter deinen Gläsern … Ich kniff die Augen zusammen, unfähig, etwas zu sehen, und langte nach meinem Vergrößerungsglas. Das ist Plastik, wie es die Götter benutzen … und das auch wir einst benutzt haben während des Goldenen Zeitalters. Eine seltsame Erregung erfüllte mich, als Etaa den Rest des Streifens unter dem Regal hervor ins Lampenlicht zog. Wie ist es dahin gekommen? Könnten die Götter vergessen haben …
    Etaa nahm das Vergrößerungsglas und hielt es über den Plastikstreifen.
    Kannst du es lesen?
    Sie sah mich nicht mehr, sondern saß mit gerunzelter Stirn, atemlos vor Konzentration, und ihre Hand spielte mit den silbernen Glöckchen an ihrem Ohr. Schließlich blickte sie auf. Sie bewegte kaum die Finger, als sie signalisierte: Ich kann es lesen. Es ist Teil eines Buches in der alten Sprache … Aber es stammt aus der Zeit vor der Großen Seuche.
    Bist du sicher? Alle unsere heiligen Bücher sind nach der Seuche geschrieben worden, und obwohl sie die Wunder des Goldenen Zeitalters erwähnten, waren sie doch getrübt durch die Verzweiflung eines scheiternden Volkes, und viele Anspielungen waren unklar. Mir bebten die Hände. Lies es mir vor.
    Ich hielt das Vergrößerungsglas, und Etaa übersetzte, bis ihre Augen sich röteten und ihre Hände vor Müdigkeit flatterten. Und wenn auch viele Dinge im unklaren blieben, weil sie unser Verständnis überstiegen, so stand doch eine unleugbare Wahrheit fest: Im Goldenen Zeitalter konnten alle Menschen hören. Ich hatte recht! Menschen sollten nicht weniger sein als die Götter – Menschen waren Götter. Aus Furcht hat die Kirche die Wahrheit seit der Großen Seuche verloren, und jene falschen ‚Götter’ benutzen unseren Aberglauben dazu, um uns unter Kontrolle zu halten. Ich nahm Etaas müde Hände und küßte sie. Unser Sohn aber wird der Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters sein, er wird hören und klar sehen, und er wird meinem Volk die Wahrheit zeigen. Er wird unser größter König sein! Etaa lächelte gefangen von meinen Träumen, und wenn sie auch für meinen Sohn und nicht für mich lächelte, so minderte dies doch nicht das Übermaß meiner Freude.
    Und dann wurde dieser Augenblick durch einen stechenden Schmerz zerrissen, der meinen Rücken durchfuhr, durch einen Schlag, der mich vom Stuhl warf. Blaue Wellen schwappten vor meinen nutzlosen Augen, als ich fiel, und ein Lichtstreif blitzte vor meinem Gesicht auf; verzweifelt riß ich die Hände hoch, doch bevor mich die Klinge noch einmal treffen konnte, versperrte mir eine grüne Samtwoge den Blick, als Etaa selbst sich auf den angreifenden Priester stürzte. Ihre schönen Hände dämpften die Klinge, und irgendwie trieb sie ihn weg von mir, während ich auf die Füße kam. Ich griff nach meinen Gläsern, zog meinen Dolch und sah gerade noch, wie der Priester sie gegen die Wand schleuderte und einen Satz zur Tür machte. Ich schmetterte ihn zu Boden, als er an mir vorbei wollte; er krachte mit dem Schädel auf die Fliesen, und das Messer entfiel seinem Griff.
    Und hinter ihm sah ich, wie Etaa sich in einem Anfall von Schmerz auf dem Boden wand. Sie hielt ihren Bauch, und das Blut, das aus ihren zerschnittenen Händen rann, befleckte den Samt. Ich blickte zurück in das Gesicht meines Angreifers, jetzt von Angst verzerrt, als ich meinen Dolch an seine Kehle hielt. Dann bemerkte ich, daß er gar kein Priester war: Unter seiner Kappe traten schmutzige Haare hervor, sein Gesicht war jung, aber dreckverschmiert und durch Entbehrung verhärmt. Er war ein bezahlter Mörder aus den Bordellen von Newham, und ich war überzeugt, daß er auch hören konnte. Und ich konnte weder an ihn noch an seinen Anstifter heran, denn in diesem Fall erhob die Kirche ihren Anspruch auf Gerichtsbarkeit. Meine Hand umklammerte den Dolchgriff fester, und ich hätte ihm die Kehle durchgeschnitten. Als jedoch eine Blutspur an meinem Dolch entlang über seinen Hals lief, fühlte ich Etaas Augen auf mich gerichtet, und mir wurde schlecht. „Dann soll der Erzbischof dich für dein

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