Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
Vom Netzwerk:
begriff ich plötzlich, was es bedeutete, niemals Erfüllung zu finden, weil selbst der Klang eines Wortes verloren war … die Empfindung … Ganz verzweifelt begann ich zu rezitieren: „Ich bin das Auge, das meinen Blick trifft. Ich bin das Glied …“
    Etaa schreckte auf und starrte mich an; ich hatte nie zuvor in ihrem Beisein gesprochen. Überraschung und Bestürzung kämpften in ihrem Gesicht; zuerst blickte sie auf ihren Sohn, dessen fröhliches Geplapper genausoviel Sinn machte wie meins, dann sah sie quer durch den Raum wieder zu mir. Impulsiv wiederholte ich den Vers, und sie runzelte die Stirn. Sie nahm ihr Baby auf und zog in die entfernteste Ecke und verkroch sich in ihrer zeltartigen Jacke auf der alten Matratze … sie griff sich an die Kehle. Sie hustete.
    Nicht lange danach ertappte ich sie, wie sie Laute, die ihr Baby von sich gab, nachahmte. Innerhalb einer Woche etwa hatte sie gelernt, ihm etwas vorzusummen. Zuerst fühlte ich mich schuldig an dem, was ich angerichtet hatte, doch allmählich redete ich mir ein, daß es keine Folgen haben würde. Dazu kam, daß ich mir auch gar nicht mehr so sicher war, überhaupt etwas falsch gemacht zu haben.
    Und dann kam der Tag, an dem sich die Wolken teilten. Als ich dankbar für das sich langsam erwärmende Wetter am Rande des Labyrinthes herumstreifte, brach über mir ein plötzlicher Glanz hervor, und über das ganze zerklüftete Land fiel ein Schauer von goldenem Sonnenschein. Einen Augenblick lang stand ich da und starrte auf diese unbegreifliche Pracht, bis ich aufblickend das rote „Auge“ und das streifig-grüne Antlitz von Cyclops auf mich niederspähen sah, ein Stück des aufgefetzten Himmels mit einer solchen Helligkeit erfüllend, daß es beinahe schwarz zu sein schien. Ich hatte meine Stützen abgelegt, um zur Abwechslung einmal die Beine frei zu haben – laufen war für mich einigermaßen beschwerlich und fast lächerlich geworden –, aber ich rannte in unsere Unterkunft zurück und duckte mich in den offenen Eingang. „Etaa, komm und schau!“
    Sie schwang Alfilere, durch den Raum tanzend, herum und hielt mitten in ihrem Wirbel ein, sie blinzelte, ihr Lächeln verging. Ich merkte, daß ich laut gerufen hatte, und wiederholte in der Zeichensprache: Man kann den Himmel sehen!
    Sie folgte mir nach draußen, setzte Alfilere zum Spielen in das federnde Moos und blieb neben mir stehen, überwältigt durch das sonnenscheckige, goldene Land und den Himmel. Ich hatte fast vergessen, wie majestätisch Cyclops erschien, mit der Sonne zur Krone und nur ein wenig kleiner von diesem äußeren Mond aus. Ich dachte wieder daran, daß der Himmel, den die Menschen für so selbstverständlich hielten, der schönste war, den ich je gesehen hatte. Schau, Etaa, kannst du den dunklen Fleck vor dem Antlitz von Cyclops sehen? Das ist deine Erde.
    Sie wurde rot, als hätte ich sie beleidigt. Da erst fiel mir ein, daß sie keine Ahnung davon hatte, wo wir uns befanden, und in meiner blinden Unerfahrenheit wußte ich nicht, was das wirklich bedeutete. Wir sind nach Laa Merth gekommen, dem Mond, den man von der Erde aus sehen kann, im Wagen des Königs; die Götter können ihn zwischen den Welten reisen lassen. Jetzt kannst du an seiner Stelle die Erde am Himmel sehen. Diese beiden Welten sind Monde von …
    Böse schloß sie die Augen und wies mich zurück. Die Mutter ist die Mitte aller Dinge. Dies ist die Erde! Sie kreuzte die Arme und wandte sich nach dem Rand des Abhanges, eine kleine, sture Gestalt, vom Wind zerzaust. Sie war immer noch die Priesterin der Mutter, und plötzlich begriff ich, daß sie einen ebenso festen Glauben hatte wie irgendein Tramainer und daß ihre chthonische Gottheit genauso greifbar und wirklich war. Wie durch ihren Willen gezwungen, schlossen die Wolken über dem letzten, schimmernden Himmelsstück, und Regen klatschte nieder, narbte den rostbraunen Staub mit blütengroßen Flecken.
     
    Als es zu regnen anfing, verließ Etaa den Felsenrand und suchte mit den Augen nach ihrem Kind – und schrie. Ich wirbelte herum und sah, ihrem Blick folgend, die Schattenform eines Gleiters auf den kleinen Alfilere herabstoßen wie der dunkle Tod. Sie rannte hin, verzweifelt die Arme schwingend. Ich zog meine Waffe und feuerte, ohne zu wissen, wo ein Gleiter verwundbar war, doch ich hoffte, daß der Schreck ihn von seinem Stoß ablenken würde. Gleichzeitig rannte auch ich los und sah, wie der unglaubliche, lederartige Balg des Gleiters durch den

Weitere Kostenlose Bücher