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Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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Und ich hatte nie an der Moral unserer Position gezweifelt.
    Doch dann mußte ich diese verlassene Welt mit Etaa teilen und durchlief die Veränderung und wurde auf eine Weise verändert, die mir nie in den Sinn gekommen war.
    Anfangs zeigten sich Widerstände gegen die Veränderungen, wie es immer bei Veränderungen der Fall ist. Der physische Verfall meiner Gestalt hatte sich verlangsamt, während meine Körperchemie nach und nach ein Verständnis der neuen Umgebung erlangte. Immer länger blieb ich draußen in den bitteren Tagen des fremden Frühlings. Meine physische Veränderung wurde auch durch Etaas Anwesenheit verlangsamt, ich fuhr unwillkürlich damit fort, die Gestalt meines engsten Gefährten nachzuahmen – meines einzigen Gefährten während öder, endloser Wochen bis zur Rückkehr von Iyohangziglepi mit Vorräten und damit der Abwechslung, wieder einmal ein gesprochenes Wort zu hören und ein freundliches Gesicht zu sehen. Und die allmählich qualvoller werdenden Berichte über die ungelösten Probleme von Tramaine zu vernehmen. Die Liberalen hatten die Kotaaner aufgerüttelt, und jetzt schien es nichts mehr zu geben, was sie aufhalten konnte. Und solange diese unsicheren Zustände andauerten, sollte der Sohn des Königs vor ihnen geschützt werden.
    Manchmal machte ich mir Sorgen darüber, daß Etaa in ihrer endlosen Einsamkeit zusammenbrechen könnte, denn sie konnte nur selten in die weitere Umgebung der toten Stadt entrinnen, so wie ich es tat. Indessen stammte sie aus einem Volk, das an lange, vergrabene Winter gewöhnt war, und wenn sie manchmal das Feuer unter dem Fenster unnötig schürte oder zu lange schlief oder im Schlaf weinte, so versuchte ich, sie in Ruhe zu lassen. Jeder bewältigt seine Probleme auf eine eigene Weise, und sie hätte sowieso nicht auf mich gehört. Aber ich beobachtete sie und ihr Kind, wie ich bei Tag die Gleiter beobachtete, wenn sie über dem Labyrinth schwebten, und wieder spürte ich eine unerklärliche Bewegung in meiner Seele.
    Ihre Gedanken waren in den ewigen Mantel ihres Schweigens gehüllt, und nur ihr Baby Alfilere konnte sie aus sich herausbringen. Stundenlang saß sie da und schaukelte ihn, während Regen auf das Dach trommelte und das silberne Glöckchen an einem ihrer Ohren leise klingelte. Aus allen möglichen Resten machte sie Spielsachen für ihn und lächelte, wenn er sie an den Haaren zog. Sie kitzelte ihn, während er nackt auf ihrem Umhang am Feuer spielte, bis ihr Lachen den kahlen Raum mit Licht anfüllte. Sie machte das Beste aus ihrer neuen Gefangenschaft, und deswegen hielt ihr Sohn die Welt für einen erfreulichen Ort.
    Manchmal aber, wenn sie ihn stillte, wanderte ihr Blick aus der Gegenwart; dann füllte Wehmut ihre Augen wie Tränen, um in ein tieferes Wissen überzugehen, ganz fremdartig und ganz menschlich. Manchmal auch betrachtete sie das Antlitz ihres Kindes, als fände sich ein anderes darin, und dann bedeckte sie es mit verzehrenden Küssen. Sie nannte ihn bei einem kotaanischen Namen „Hywel“ und nicht „Alfilere“, und ich vermutete, sie wußte, daß es das Kind ihres Mannes war und nicht das des Königs – dieses Kind der Hoffnung und des Leids. Dieses Kind, das die Mitte ihrer Welt war – dem Etaa, die die „Gesegnete“ genannt wurde, niemals jenen einzigartigen und wunderbaren Segen mitgeben konnte, den sie besaß: die Gabe zu sprechen. Weil sie niemals wissen würde, daß sie sie besaß.
    Ihr Alfilere war ein kluges, sanftes Baby, das mehr lachte als weinte und nur dann weinte, wenn es einen Grund dazu hatte. Tagtäglich nahm es mehr von seiner Welt, und bald teilte ich Etaas Faszination über jeden Fortschritt. Als er jedoch zum ersten Mal seine Stimme fand und stundenlang vor sich hin quietschte und brabbelte, betrachtete sie ihn nur bestürzt. Ihr Volk glaubte, das Hören sei eine Manifestation von Gedanken einer fremden Seele, und ich wußte, dies war ihr erstes Kind. Obwohl sie in die Hände klatschte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, brachte sie für ihn nie einen anderen Laut hervor als ihr Lachen, sie bewegte nur immer wieder ihre Hände, wenn er zusah, und wiederholte die Zeichen für einfache Wörter. Gewöhnlich haschte er nur nach ihren Fingern und versuchte, sie sich in den Mund zu stecken.
    Und während ich diese Frau beobachtete, die so stark und fruchtbar war und ihre volle Seh- und Hörkraft besaß, die all das darstellte, was einen Menschen ausmachte – oder was ein Mensch sein sollte –,

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