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Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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Danach vernahm ich noch weniger von ihr, sie durchbohrte mich nur noch mit Blicken, so als ob ich diese schreckliche Fremdartigkeit auf irgendeine Weise angerichtet hätte. Sie wagte sich freiwillig nie wieder hinaus und ließ nie ihren Sohn mit mir allein.
     
    Den größten Teil meiner Zeit verbrachte ich draußen, wo ich mich bei dem Versuch, Hintergrunddaten für meine ökologischen Veränderungs-Untersuchungen zu sammeln, in dem beißenden Wind mit meiner Ausrüstung abmühte. Die verlassene Menschenstadt kauerte wie ein angebundenes Tier am Rande des Plateaus, mit unmenschlicher Geduld die Rückkunft ihrer Herren erwartend, während Zeit und die knorrigen Arme des Gesträuchs sie in die Vergessenheit zerrten. Jenseits des Plateaus hatten sich Äonen von Sedimenten eines längst vergessenen, trüben Meeres zu entfernten, rauhen Gipfeln übereinander gelegt. In der näheren Umgebung jedoch war der Stein so lange durch ungezählte Faltungen zerbrochen, durch Winterregen und sandfegenden Wind korrodiert, bis sich ein Netz von gewundenen Schluchten mit senkrechten Wänden in seine wellige Oberfläche gefressen hatte. Der ewige Wind sang durch diesen Irrgarten, den eisenroten Staub in den Rinnen peitschend, wo mit jedem niederstürzenden Regenguß blitzendes Wasser brüllend vorbeirauschte. Der Wind war ein Raufbold, er schüttelte die langsamen, schweren Wolken, brach sie auseinander für einen plötzlichen Blick auf den glänzenden Himmel und verschloß sie wieder, bevor man die Stelle gefunden hatte. Land und Himmel vereinigten sich am dämmrigen Horizont, und überall wiederholten sich die Farben, schattiges Violett und Rost, brennendes Orange und zartes Lavendel, alles verschmolz zu Grau in dem düsteren Licht.
    Die Pflanzen, die es gab, existierten auf Kohlenstoffbasis, hauptsächlich waren es Flechten und ein allgegenwärtiges, dunkles höckriges Moos. Die karg verstreuten, höherentwickelten Formen gipfelten in einem strauchartigen Baum zwischen den Ruinen, ein groteskes Ding, das aussah, als wäre es verkehrt herum gewachsen. Über das Leben von Tieren wußte ich so gut wie nichts, da die vorhergegangenen Vermessungen nur oberflächlich gewesen waren. Von Zeit zu Zeit bemerkte ich dunkle Dinge im äußersten Winkel meines Blickfeldes, und in den Aufwinden über den Schluchten sah ich manchmal eine schemenhafte, sich wellenförmig bewegende Gestalt. Als ich damit begann, diese „Gleiter“ im Fluge zu beobachten, spürte ich zum ersten Mal, wie eine Veränderung sich in mir regte, ein blindes Verlangen nach Verstehen, ein ungeformtes Bedürfnis, das neue Gleichgewicht zu erlangen … zum ersten Mal war ich nicht gezwungen, eine vorgegebene Gestalt anzunehmen, diesmal würde mein Körper in der Einheit des neuen Unbekannten frei seinen eigenen Platz finden. Ich war erfüllt von dem Wissen, daß ich dieses Mal nichts über das Leben in dieser Welt wußte … doch bald, auf gewisse Weise, würde ich alles wissen.
    Und ich fragte mich, ob hierin vielleicht der wahre Grund unserer Furcht vor den Menschen lag: Denn trotz unserer ganzen Forschungen waren wir nie an ihrem Ursprungsort gewesen, auch nie wirklich „einheimisch“ bei ihnen. Weil wir zu unnatürlicher Nachahmung bei diesem verpflanzten Geschlecht gezwungen waren, hatten wir niemals wirklich gefühlt, was es bedeutete, ein Mensch zu sein. Wir trugen falsche Gesichter, falsche Körper; ringsumher sahen wir, wie sie funktionierten und reagierten, doch wir wußten nie, was sie dazu bewegte.
    Beim Durchstreifen der toten Menschenstadt dachte ich darüber nach, was für ein Gefühl es sein müßte, eine bisher völlig unbekannte Welt zu kolonialisieren, zu glauben, man sei in Sicherheit und gut versorgt – und unversehens wird man von einer fremdartigen Epidemie betroffen; man muß mit ansehen, wie die halbe Bevölkerung stirbt, wie die Überlebenden genetisch verstümmelt bleiben – steril und taub und blind … man verliert den Kontakt mit dem Rest der Menschenart und muß erleben, wie die stolze Zivilisation aus Furcht in Stücke gerissen wird und die Technikologie zu Barbarei zerfällt … man verliert alles.
    Um dann zurückzukehren und von vorn zu beginnen, in einem trügerischen, schweigenden Universum; dann so weit zu gelangen – um wieder aufgehalten zu werden, von uns. Sie hatten sich angepaßt, und es gab nichts, was wir mehr bewunderten. Dennoch hielt der Kolonialdienst sie auf; wir schätzten uns glücklich, daß sie soviel erlitten hatten.

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