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Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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aufhob, klammerte er sich mit seinen starken, winzigen Händen an mich, und ich spürte ein Aufwallen von Freude darüber, wie er an mir hing. Wieder schlief ich und hatte neue Träume – Träume von Veränderung.
    Ich weiß nicht mehr genau, wann ich mich dazu entschloß, Etaa das Sprechen beizubringen. Dieser Wunsch kam auf einer Welle von Erschöpfung daher, weil es immer mühseliger wurde, Wort für Wort einer jeden Antwort aufzuschreiben. Meine Hand regenerierte sich, doch die Veränderung kam schneller, und die andere Hand wurde zu steif und knorrig, um Zeichen mit ihr zu machen oder einen Stift zu halten. Etaa sprechen zu lehren hieß, die Regeln in einer Weise zu verletzen, wie ich es vorher nicht einmal in Gedanken getan hatte. Es bedeutete, in das Gefüge der Menschen einzugreifen und einen wichtigen, kulturellen Antrieb zu liefern. Doch was, so dachte ich, sollte ich überhaupt mit ihr hier, und was machten die Liberalen, die weit zurück in Tramaine Krieg führten? Auch ich würde mich des Liberalismus schuldig machen, aber ich mußte mich mitteilen können – und daher redete ich mir ein, daß, selbst wenn sie sprechen lernen würde, dies bei einem zu meist tauben Volk keine Folgen hätte.
    Und während der letzte stürmische Schauer der Regenzeit auf das hilflose Land niederbrauste und auf das Dach prasselte, erklärte ich Etaa, wie es kam, daß sie von dem Regen auf dem Dach wußte, die anderen Menschen aber nicht. Ich machte sie auf die Geräusche aufmerksam, die ihr Kind machte, die ich machte – und auf die, die sie selber neuerdings hervorbrachte. Ich zeigte ihr die Muster, die man daraus weben konnte, wie ihre Hände Muster in die Luft webten. Ich sang ihr ein Lied vor, das ich von einem Tonband aus der Zeit vor der Seuche kannte, und zweimal bat sie mich, es zu wiederholen, und ihr ganzer Körper war vor Aufregung angespannt – und, beinahe, vor Furcht. Beim dritten Mal begann sie mitzusummen, tonlos zuerst, während Alfilere auf ihrem Schoß saß, an einem Stück Plastik kaute und sein eigenes, entzücktes Babylied dazu sang. Doch plötzlich brach sie ab, nervös von einer Seite zur anderen blickend. Wieder schlug sie den Mantel aus Schweigen um sich und signalisierte: Das ist nicht richtig! Die Mutter sagt uns, daß wir die innerste Seele aller Dinge fühlen – hören! Diese „Stimme“ kommt nicht aus der Seele, sie ist nicht wirklich … vielleicht waren wir nicht dazu bestimmt, sie zu gebrauchen, sonst würden wir doch wissen … Ihr Ohrring klingelte und schwang in ihrem Verlangen und ihrer Unsicherheit.
    „Etaa“, kritzelte ich geduldig, „einst hatte dein Volk diese Kenntnis, alle Menschen hatten sie. Aber nach der Großen Seuche haben sie vergessen, wie man seine Stimme gebraucht, weil niemand sie hören konnte. Du hast gesehen, wie die Edlen von Tramaine ihre Lippen bewegen und sich gegenseitig verstehen – auch sie haben ihre Stimme vergessen, aber sie erinnern sich daran, wie man den Mund benutzt, um Zeichen zu machen. Einem jeden Menschen war eine Stimme gegeben, damit er anderen seine Gefühle mitteilen konnte. Denk darüber nach, wieviel mehr du über andere Wesen weißt, weil du ihre Stimme vernehmen kannst – ihre Seelen spüren kannst. Stell dir vor, wieviel mehr du auch über Menschen wüßtest, wenn sie den vollen Gebrauch ihrer Stimme kennen würden.“
    Lange starrte sie auf die Botschaft, dann machte sie eine Reihe von kotaanischen Zeichen; ich verstand, daß sie betete. Sie nahm eine Handvoll Staub vom Boden auf und ließ ihn durch ihre Finger gleiten. Endlich atmete sie tief ein, und ich las es in ihren Augen, bevor mir ihre Hände sagten: Ich will es lernen.
    Nachdem sie einmal ihre Entscheidung getroffen hatte, war sie nicht mehr still. Sie übte alle Laute vor mir oder vor Alfilere oder vor den Gleitern auf dem warmen Sommerwind, wenn sonst niemand zuhörte. Zu meiner Erleichterung lernte sie sofort, einen Laut vom anderen zu unterscheiden, und ich legte meinen Schreibblock zur Seite, als ich sie die Phoneme der präepidemischen Sprache gelehrt hatte. Diese selbst hervorzubringen war schon schwieriger, und zu Beginn bestanden ihre Antworten aus dem ernsten Singsang undeutlicher und überraschender Nachahmungen, die sie durch Handübersetzungen begleitete. Langsam jedoch schärfte sich ihr Instinkt für das Formen der Laute, sie lachte und staunte über die unendlichen Überraschungen, die in ihrer Kehle verborgen waren. Und ich lachte mit ihr, als hätten

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