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Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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draußen über dem Labyrinth jagten – oder auch in der Nähe. Wenn sie mich sahen, hoben sie ein Klagen an, das tonale Vibrationen in meinen eigenen Luftsäcken erzeugte; sie lockten und verführten mich … bis sich schließlich mein fremdes Verlangen von meinen Hemmungen löste und ich mich von der Klippe warf und zu ihnen gesellte. Mein schlaffer Körper blähte sich auf, als sich die Säcke ausdehnten und mit Luft füllten: Ich konnte fliegen. Geschüttelt und liebkost durch den Wind, meinen elementaren Gott, besinnungslos vor Freude und Schrecken, erprobte ich die Grenzen des immerwährenden Himmels. Ich war eins mit dem Wind und dem Wolken-Schatten; ohne Gedanken, nur mit dem Übergehen von Licht in Dunkelheit, von Zeit in ewige Zeitlosigkeit, von Bewegung in Rast in Bewegung.
    Endlich kam ich wieder zu mir und besann mich auf meine Pflicht, meine Wirklichkeit. Ich begab mich in die Unterkunft zurück und fand, daß die heißen, aufsteigenden Winde sich in den langen Abendschatten abgekühlt hatten. Etaa sah mich merkwürdig an, als ob sie irgendwie wußte, wo ich gewesen war. Einen Augenblick lang entdeckte ich Neid in ihren Augen, den Neid eines Wesens, das die Einheit aller Dinge spüren kann, auf eines, das daran teilhat.
    Doch wie ich mich auf eine Weise von Etaa entfernte, stellte ich plötzlich und unerwartet fest, daß ich auf eine andere, viel tiefere Weise enger mit ihr verbunden war: Ich entdeckte, daß ich schwanger war. Ich war noch sehr jung dafür, kaum doppelt so alt wie sie und von meinem eigenen Volk getrennt, von jedem, der mir lieb war; ich hatte keinen Anreiz – und trotzdem war ich schwanger. Und dann begriff ich, daß Etaa und ihr lachender Alfilere mein Anreiz gewesen waren. Aber sie waren Fremde. Niemand von meinem eigenen Volk war hier, mit dem ich eine Geburt teilen konnte, niemand, den ich liebte; nicht einmal ein fremdes Wesen, das schwanger war. Wie konnte ich ohne mich zu vereinigen ein Kind auf diese Welt bringen, das nur ein Teil von mir und sonst von niemandem sein würde: ein Einzel-Kind, kein Kind gegenseitiger Liebe, ohne Namensvetter oder Familie? Ich kämpfte allein mit meiner Verzweiflung und verbarg alles hinter der zunehmenden Fremdartigkeit meines Gesichts vor Etaa, bis die Fähre mit Vorräten zurückkam. Doch Iyohangziglepi konnte nur „Nichts Neues“ aus Tramaine berichten, und mein Elend zu teilen schien am Ende nur, es zu vertiefen, deshalb sah ich zu, wie die Fähre den düsteren Wolken entgegenstieg und kehrte allein in die Ruinenstadt zurück.
    Doch wie alle natürlichen Dinge war auch ich von Natur aus fröhlich eingestellt, und als ich endlich für die erste Teilung bereit war, verschwanden meine Ängste, und staunender Stolz füllte den entstandenen Raum. Ein geheimer Stolz, den ich vor Etaa verborgen hielt, wie ich meinen Schmerz vor ihr verborgen hatte, weil ich nicht wußte, wie sie reagieren würde. Bisher hatte sie alles akzeptiert – weil die menschliche Kultur noch nicht den Punkt erreicht hatte, wo „Wunder“ unmöglich waren –, doch ließen meine schützenden Instinkte mich schweigen. Ich nahm ihr nur das Versprechen ab, einen abgedunkelten Raum unserer Unterkunft nicht zu betreten, und hoffte, sie würde gehorchen.
    Daß ich ihr dieses eine Geheimnis unserer Andersartigkeit nicht anvertraute, weil ich nicht glaubte, daß die Mutter eines Kindes lernen könnte, eine andere zu verstehen, war das Schlimmste, was ich je hatte tun können. Und irgendwie wußte ich es, als ich ihren Schreckensschrei hörte, wußte es, als ich mich wie rasend von draußen zurückkämpfte: Sie hatte den verbotenen Raum betreten und mein Kind gefunden. „Etaa, nein!“ Ich taumelte in den Eingang, wahnsinnig vor Enttäuschung und Kummer.
    „Tarn, beeil dich, hilf mir, ein Tier …!“
    „Etaa!“ Meine Stimme brach vor Zorn – sie erstarrte mit dem Stock in der Hand über der formlosen, blutigen, grauen Masse, die noch auf dem Boden zitterte. Jammervolle Schreie schrillten in einem Hörbereich, der nur mir zugänglich war, sie wurden schwächer, wie ihr Leben schwächer wurde. „Etaa …“ – die Worte brannten mir im Mund – „… was hast du getan?“
    Etaa ließ den Stock sinken und wich erschreckt und verwirrt vor mir zurück. Sie nahm Alfilere auf, der jetzt ebenfalls vor Angst und Verwirrung zu weinen begann, und blickte abwechselnd von mir auf das Bündel lebender Stücke, die in einem Nest kauerten – alles, was von meinem halbfertigen Kind

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