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Das Kind der Priesterin

Das Kind der Priesterin

Titel: Das Kind der Priesterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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habe den Himmel beobachtet, und er ist anders; Cyclops ist zusammengeschrumpft, die Streifen auf ihrem Gewand sind verdreht … alles ist verschieden hier; ich glaube, es muß wahr sein.“
    „Ja, alles ist wahr.“
    „Unsere Legende erzählt, daß Laa Merth einst eigene Kinder gehabt hat, daß Cyclops sie jedoch vernichtet hat. Dies muß ihre Stadt sein, und daher muß auch das wahr sein.“
    „Ja.“ Ich fragte mich, ob etwas von den kotaanischen Mythen über die Ursache der menschlichen Seuche stimmte.
    „Aber unsere Legende sagt, daß die Mutter die Mitte aller Dinge ist. Wie kann Sie ein Fleck auf dem Antlitz der Cyclops sein?“
    Mir wurde die Kehle eng unter dem Schmerz, der ihre Stimme erschütterte, und ich konnte nicht antworten.
    „Tarn.“ Ihre Finger langten herunter und schabten mir die rauhe Haut. „Ich weiß nichts; alles ist an den Wind verloren. Sag mir die Wahrheit, Tarn.“ Sie sank an meine Seite, mit einschmeichelnder Stimme und wilden Augen. „Woran soll ich jetzt glauben?“
    „Etaa, ich … kann nicht …“ Ihre Finger krampften sich auf meinem Rücken zusammen, sagten mir, ich mußte jetzt: Daß meine mitleidlose, egozentrische Welt ihre Welt fortgerissen und sie in die Dunkelheit des leeren Raumes geworfen hatte. Ihr Glaube war ihre Kraft, um es mit dem Unheil aufzunehmen, und ohne Glauben würde sie zerbrechen, würden wir alle zerbrechen. „Etaa, die Mutter ist …“
    „Es gibt keine Mutter! Sag mir die Wahrheit!“
    Ich schloß die Augen und überlegte, was wohl Wahrheit war. „,Mutter’ und ‚Erde’ … sind für dich dasselbe, in deiner Sprache und in deiner Vorstellung. Aber die Erde ist zugleich die Welt, in der du lebst, und eine Mutter ist das, was du bist und was ich bin, eine Lebensspenderin. Und diese beiden Dinge sind noch immer wirklich und wunderbar. Deine Erde sieht jetzt sehr klein aus, doch nur, weil sie weit weg ist – wie Laa Merth an deinem Himmel zu Hause. Wenn du zurückkehrst, wirst du wieder sehen, wie groß und wie schön sie ist – angefüllt mit allem, was du zum Leben brauchst. Sie ist wie eine Mutter, und das wird Wahrheit bleiben. Die Kotaaner sind sehr weise, daß sie sich Kinder der Erde nennen und für ihre Gaben dankbar sind.“
    „Aber Cyclops ist größer und stärker.“
    „Größer an Umfang. Aber nur eine Welt.“ Und jetzt nur ein heller Schimmer hinter den Wolken. „Eure Mythen sind richtig; Cyclops liebt dein Volk nicht – es wäre Gift für euch, dort zu leben. Die Erde ist aber stark genug, außerhalb seiner Reichweite zu bleiben, und sie wird immer für euch sorgen. Und die Sonne wird seinem Schatten immer Trotz bieten, die Erde fruchtbar machen und euch das Leben geben. Du siehst, du hast die Wahrheit die ganze Zeit gekannt, Etaa.“
    „Aber … die Welten leben nicht … sie sehen nicht alles oder wollen in unser Dasein eingreifen wie ihr …“
    „Nein. Aber tatsächlich sind sie am Ende stärker als irgendeiner von uns. Unser aller Leben hängt von ihnen ab; selbst Sternenbewohner brauchen Luft und Wasser und Nahrung, um zu überleben. Wir sind sehr sterblich, genau wie ihr. Alles, was wir kennen, ist sterblich, sogar Welten … sogar Sonnen.“
    „Gibt es denn sonst gar nichts? Gibt es keinen Gott, keine Göttin, um uns zu formen?“
    „Wir wissen es nicht.“
    Etaa schaute schweigend in die zunehmende Dunkelheit hinaus, sie formte mit den Händen Zeichen, die ich nicht kannte. Dann, langsam, griff sie an ihr Ohr und entfernte das silberne Glöckchen. Sie ließ es in ihre Jackentasche fallen, als ob es ihr die Finger verbrennen würde.
    „Oh, Meron“, flüsterte sie, „wie konntest du es so lange ertragen, nie zu wissen, was die Wahrheit war oder ob irgend etwas überhaupt Wahrheit war?“
    Ich sah sie überrascht an, sie aber erhob sich nur und ging an ihr Lager, ihre Antwort in der Nähe Alfileres suchend. Ich schlüpfte in den verdunkelten Raum, um mein eigenes Kind zu sehen, und dachte an das Leid und die Freude, die wir uns gegenseitig gegeben hatten. Und als ich neben meinem sich formenden Kind lag, wünschte ich, daß es einen Weg für uns gegeben hätte, uns gegenseitig das größte aller Geschenke zu geben.
     
    Wir blieben länger als ein Drittel eines cyclopischen Jahres auf Laa Merth, beinah ein halbes Menschen-Jahr. Alfilere machte mit blanken Augen wacklige Schritte, an die Finger seiner Mutter geklammert, und mein eigenes Baby, jetzt ganz geboren, weich und silbern und neu, öffnete seine großen,

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