Das Kind der Rache
mit der Wimper zu zucken. »Ich weiß
leider nicht, was Sie unter normal verstehen. Wahrscheinlich
möchten Sie von mir erfahren, welche Gefühlsäußerungen Kate
und Bob gezeigt haben. Aber das kann ich schlecht beurteilen,
weil ich selbst keine Gefühle mehr habe. Vor dem Unfall war
es anders, da hatte ich die gleichen Gefühle wie andere
Menschen.«
»Trotzdem wäre dir vielleicht aufgefallen, wenn sie sich in
irgendeiner Weise ungewöhnlich benommen haben. Nun?«
Alex produzierte ein verlegenes Lächeln. »Falls das von
Bedeutung ist: Bob hat versucht, mich auf den Arm zu
nehmen.«
»Ich weiß«, sagte Sergeant Jackson. »Deine Freundin hat es
uns erzählt. Sie hat uns auch gesagt, daß du bei dieser
Gelegenheit nicht errötet bist.«
»Ich glaube nicht, daß ich überhaupt noch erröten kann.
Vielleicht kann ich mir das aber noch aneignen.«
»Du willst dir eine solche Gefühlsäußerung aneignen?«
wunderte sich Jackson. Und dann stellte er eine Frage, von der
er sicher war, daß sie Alex in Verlegenheit bringen würde.
»Vorhin hast du gelächelt. Wie erklärt sich das, wo du doch
keine Gefühle hast?«
Alex warf seinem Vater einen fragenden Blick zu. Marsh
nickte. Erst jetzt gab der Junge dem Beamten die erbetene
Antwort. »Ich habe nach dem Unfall erst wieder lernen
müssen, wie man lächelt. Ich habe es vor dem Spiegel geübt.
Ich bin nicht wie die anderen Menschen. Aber ich versuche,
mich so zu benehmen, wie ich es bei den anderen sehe. Ich
schätze, es ist normal, daß ich gelächelt habe, bevor ich Ihnen
sagte, daß Bob mich aufziehen wollte.«
»Okay«, sagte Sergeant Finnerty, dem bei Alex' Erklärung
ein Schauder über den Rücken gelaufen war. »Gibt es sonst
noch Dinge, an die du dich erinnerst?«
Alex verneinte. Wenige Minuten später verließen die beiden
Beamten das Haus.
»Alex?« fragte Marsh. »Gibt es Dinge, die du den Beamten
verschwiegen hast?«
Sein Sohn schüttelte den Kopf. Er hatte alle Fragen der
Polizei wahrheitsgemäß beantwortet. Er hatte ihnen alles
gesagt, woran er sich erinnerte. Allerdings hatten sie ihn nicht
gefragt, wer Valerie Benson getötet hatte. Hätten ihm die
Beamten diese Frage gestellt, so hätte er mit den Tatsachen
nicht zurückgehalten. Zwar hätte er ihnen nicht sagen können,
warum Mrs. Benson sterben mußte, das wußte er nicht. Er hatte
auch keine Ahnung, warum Mrs. Lewis hatte sterben müssen.
Von diesen Einschränkungen abgesehen, war das Bild, das
seine Erinnerung ihm zeigte, klar und deutlich. Alle Steine des
Puzzle waren zusammengefügt. Alex hatte begonnen, die Wirkungsweise seines Gehirns zu verstehen. Schon bald würde er
in der Lage sein, auch die verborgenen Motive zu begreifen,
die den Ereignissen zugrunde lagen.
Er würde verstehen, was geschehen war, und er würde
wissen, wer er war.
»Das ist ja eine Überraschung«, sagte Arlette Pringle. Sie
begrüßte Alex, der soeben die Bibliothek betreten hatte, mit
einem Lächeln. »Wenn das so weitergeht, wirst du noch zu
meinem besten Kunden.«
»Ich bin auf der Suche nach weiteren Informationen, Miß
Pringle«, erwiderte Alex. »Ich möchte genau wissen, wie es
früher in La Paloma zuging.«
»Über La Paloma habe ich nicht viel«, sagte sie nachdenklich. »Eigentlich nur das Buch, das du dir vor ein paar
Tagen angesehen hast.« Bedauerndes Schulterzucken. »Ich
glaube, in diesem Ort ist nie etwas passiert, was einen
Schriftsteller oder einen Stadtschreiber interessiert hätte.«
»Irgendein Buch wird doch noch da sein«, drängte Alex.
»Ein Buch über die Zeit, als die Bevölkerung von La Paloma
hauptsächlich aus Mexikanern bestand.«
»Mexikaner«, echote Arlette. Wie immer, wenn sie vor
einem Problem stand, formte sie ihre Lippen zu einem
Schmollmund. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wonach
du eigentlich suchst. Es gibt ein paar Bücher über die Arbeit
der Franziskanermönche, aber nichts, was sich speziell auf
unsere Missionsstation bezieht. La Paloma war im Vergleich
zu den anderen Niederlassungen der spanischen Mönche nicht
so wichtig, weißt du.«
»Vielleicht gibt es Bücher über die Ereignisse, als die
Amerikaner den Ort übernahmen.«
»Nicht daß ich wüßte. Es wird natürlich viel erzählt über die
alten Zeiten, aber ich glaube nicht, daß diese Dinge in
irgendeinem Buch niedergeschrieben sind.«
»Und was ist das, was sich die Leute von den alten Zeiten
erzählen?«
»Zum Beispiel die Geschichte von Don Roberto
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