Das Kind der Rache
de
Melendez y Ruiz, der damals Besitzer der Hazienda war.« Sie
senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Es heißt, bei der
Übernahme des Anwesens durch die Amerikaner hat es ein
Massaker gegeben.«
Alex spürte, wie der Wind des Erinnerns seine Schläfen
liebkoste. »Ein Massaker auf der Hazienda?«
»Das sagen jedenfalls die Chicanos. Aber man muß dabei
berücksichtigen, daß solche Legenden über zig Generationen
weitergegeben werden. Ich für meine Person möchte
bezweifeln, daß etwas Wahres daran ist. Aber wenn du
wirklich mehr Einzelheiten in Erfahrung bringen willst, warum
unterhältst du dich nicht einmal mit Mrs. Torres?«
»Mit Maria Torres?« fragte Alex. Seine Stimme klang hohl.
Zum erstenmal seit der Operation spürte er so etwas wie Angst.
Alles paßte zusammen, paßte zu der Erklärung, die er nach
langem Grübeln gefunden hatte.
»Ganz recht, mit Maria Torres. Sie wohnt in dem kleinen
Haus hinter der Missionsstation. Du kannst ihr sagen, ich hätte
dich zu ihr geschickt. Allerdings muß ich dich warnen. Wenn
sie erst einmal zu reden beginnt, hört sie nicht mehr auf.« Sie
schrieb die Adresse auf und reichte Alex den Zettel. »Und
glaub nicht jedes Wort, was sie sagt. Denk daran, sie ist schon
sehr alt. Eine verbitterte Frau... Ich kann's ihr nicht verdenken,
sie hat ein schweres Leben hinter sich. Wie auch immer, du
darfst ihre Stories nicht wörtlich nehmen. Ich fürchte, daß bei
solchen Legenden jeder Erzähler etwas hinzufügt.« Alex
verließ die Bibliothek. Während er die Straße entlangging, betrachtete er den Zettel mit der Anschrift. Er hatte erst wenige
Schritte zurückgelegt, als er das Papier zerknüllte und in eine
Mülltonne fallen ließ.
Das kleine, schäbige Holzhaus war nur zwei Straßenzüge
entfernt.
Mein Zuhause.
Er wußte, er war heimgekehrt. Er öffnete das Gartentor und
klopfte an die Tür. Schweigen. Er klopfte noch einmal. Die Tür
öffnete sich einen Spalt breit.
»Mama?« stotterte Alex.
Maria musterte ihn aus ihren alten Augen, dann schüttelte sie
den Kopf. »Nein«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Du bist nicht
mein Sohn. Was willst du?«
»Miß Pringle hat mich geschickt«, brachte er hervor. »Sie
meint, Sie können mir vielleicht sagen, was sich vor vielen
Jahren in La Paloma ereignet hat.«
»Du willst das wirklich wissen?« fragte sie. Ihre Augen
waren zu schmalen Schlitzen geworden. »Aber du weißt doch
schon alles. Du bist Alejandro.«
Etwas wie Schwindel befiel Alex, das Gefühl, daß der
Schmerz, den er in seinen Schläfen spürte, mit jedem Wort der
alten Frau größer wurde. Bald würde er wieder die Stimmen
hören, die in San Francisco zu ihm gesprochen hatten. »Ich
möchte wissen, was auf der Hazienda passiert ist«, sagte er
zögernd.
Maria Torres betrachtete ihn schweigend. Nach einer Weile
nickte sie zustimmend. »Du bist Alejandro«, wiederholte sie.
»Du hast einen Anspruch darauf, alles zu erfahren.« Sie ließ
ihn ins Haus eintreten und führte ihn in das winzige
Wohnzimmer, dessen Einrichtung aus einem altersschwachen
Sofa, einem Lehnstuhl, einem Tisch mit Kunststoffplatte und
vier wackeligen Stühlen bestand.
Alles war so, wie es früher gewesen war.
Die Vorhänge waren zugezogen. In einer Ecke des Raumes
stand ein Fernseher, dessen Mattscheibe ein geisterhaftes Licht
verströmte. Der Ton war eingeschaltet, aber so undeutlich, daß
Alex nichts verstehen konnte.
»Ich habe den Fernseher, damit ich nicht so allein bin«, sagte
die alte Frau. Sie ließ sich in den Lehnstuhl sinken, Alex nahm
auf der Sofakante Platz. »Was willst du wissen?«
»Ich will«, sagte Alex mit ruhiger Stimme, »daß Sie mir von
den Dieben und Mördern erzählen.«
Obwohl es dunkel war, konnte er das gefährliche Funkeln
ihrer Augen erkennen. »Por que?« fragte sie. »Warum?« .
»Weil ich mich an einige Dinge, die damals geschehen sind,
erinnere. Jetzt bin ich neugierig, die ganze Wahrheit zu
erfahren.«
»Woran erinnerst du dich?«
»An Fernando«, sagte Alex. »An Tio Fernando. Er liegt in
San Francisco begraben, auf dem Friedhof der Missionsstation.«
Marias Augen weiteten sich. »Tu tio«, flüsterte sie. »Si, es
verdad...«
»Es ist wahr?« fragte Alex.
Ihm schien, als hätten die Augen der Alten zu leuchten
begonnen. »Hablas espanol?«
»Ich weiß nicht, ob ich Spanisch sprechen kann«, sagte Alex.
»Aber ich habe verstanden, was Sie eben gesagt haben.«
Sie musterte ihn aus müden Augen. Das Haar stimmt, dachte
sie. Auch die Augen. Der Junge hatte dunkles
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