Das Kind der Rache
Haar und blaue
Augen, genau wie Don Roberto. »Si«, murmelte sie. » Es
verdad. Don Alejandro ha regresado ... Es ist wahr. Don
Alejandro ist zurückgekehrt...«
»Sagen Sie mir, was geschehen ist«, bat Alex. »Ich will alles
wissen. Bitte!«
»Die Amerikaner haben uns beraubt«, begann Maria. »Sie
haben unser Land genommen und unsere Vorfahren
umgebracht. Zuerst haben sie die Frauen der Aufseher ermordet, die allein in ihren Häusern waren. Dann sind sie zur
Hazienda geritten. Sie haben Don Roberto aufgehängt.«
»Die Eiche«, sagte Alex. »Sie haben ihn an der alten Eiche
aufgeknüpft.«
»Si«, sagte Maria. »Und dann sind sie zur Hazienda zurückgekehrt und haben Don Robertos Familie getötet. Sie
haben Dona Maria getötet und Isabella und Estellita. Sie hätten
auch den kleinen Alejandro getötet, wenn sie ihn erwischt
hätten.«
»Alejandro?« fragte Alex.
»El hijo«, sagte Maria Torres leise. »Der Sohn und
Stammhalter von Don Roberto de Melendez y Ruiz. Dona
Maria hatte ihnen gesagt, sie hätte ihn nach Sonora geschickt,
und die Amerikaner haben ihr geglaubt. Aber Alejandro war
nicht in Sonora. Er ist in La Paloma geblieben. Er hat sich in
der Missionsstation verborgen. Sein Onkel, der Priester war,
hat ihn bei sich aufgenommen. Später sind die beiden nach San
Francisco geflohen. Und als Padre Fernando starb, ist
Alejandro nach La Paloma zurückgekehrt.«
»Warum?« fragte Alex. »Warum ist er zurückgekommen?«
Einige Herzschläge lang starrte Maria den Jungen an. Ihre
Antwort kam leise, trotzdem schienen die Worte den ganzen
Raum zu füllen. » Venganza«, sagte sie. »Er kam zurück, um
an den Dieben und Mördern Rache zu nehmen. Als er auf dem
Totenbett lag, sagte er, er würde La Paloma nie verlassen. Von
seinem Grabe aus würde er an den Amerikanern Rache
nehmen. Venganza...«
Alex war aus dem kleinen Haus in die gleißende Septembersonne getreten. Ziellos wanderte er durch die Straßen von
La Paloma. Er dachte über die Dinge nach, die Maria Torres
ihm erzählt hatte. Er hatte ihr eine Frage gestellt. Sie hatte ihm
die Antwort gegeben. Eine unmögliche Antwort. Und doch
spürte Alex, daß die Bruchstücke seiner Erinnerung sich mit
dem, was er von der alten Frau erfahren hatte, zu einem
logischen Bild zusammenfügen ließen. Er stand vor einer Tür,
und jenseits der Tür war die Wahrheit. Er wußte, was er zu tun
hatte, wenn sich die Tür öffnen würde.
Das Telefon auf dem Schreibtisch hatte zu läuten begonnen.
Ein paar Sekunden lang dachte Marsh daran, das Gespräch
nicht anzunehmen. Dann aber merkte er, daß der Teilnehmer,
wer immer es war, seinen Privatanschluß angewählt hatte. Nur
wenige Freunde und Bekannte hatten diese Nummer. Wenn sie
anriefen, dann eigentlich nur, wenn es sich um einen Notfall
handelte.
Er nahm ab. »Ich hoffe, Sie werden mich nicht zwingen, die
Einlieferung Ihres Sohnes in meine Klinik per Gerichtsbeschluß zu erwirken«, ließ sich Raymond Torres' kalte
Stimme vernehmen.
»Woher haben Sie meine private Telefonnummer?«
»Ich habe Ihre private Telefonnummer, seit ich die Behandlung Ihres Sohnes übernommen habe, Dr. Lonsdale. Aber
das ist jetzt nicht wichtig. Viel wichtiger ist, daß Ihre Frau
versprochen hatte, Alex zu mir in die Klinik zu bringen. Und
zwar heute!«
»Das wird nicht möglich sein«, antwortete Marsh. »Ich habe
mit meiner Frau über die ganze Sache gesprochen. Es ist meine
Überzeugung, daß Sie nichts Gutes mehr für Alex tun können.
Er wird nie mehr in Ihre Klinik zurückkehren.«
Dr. Torres ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann: »Ob er
kommt oder nicht, ist eine Entscheidung, die nicht Ihnen
zusteht, sondern mir.«
»Mein Entschluß steht fest«, erwiderte Marsh. »Und ich
würde Ihnen von jedem Versuch abraten, den Jungen auf
eigene Faust zu holen. Falls Sie es vergessen haben, Dr. Torres,
ich bin Alex' Vater. Obwohl ich eine Vollmacht für Sie
unterzeichnet habe, habe ich immer noch Rechte.«
»Ich verstehe«, sagte Dr. Torres. »Und ich schlage Ihnen
einen Kompromiß vor. Bringen Sie Alex heute nachmittag zu
mir. Ich werde Ihnen dann die Therapie erklären, die ich bisher
bei ihm angewendet habe. Ich werde Ihnen auch erklären,
warum es notwendig ist, daß Ihr Sohn in der Klinik bleibt.«
»Kommt nicht in Frage. Erst will ich von Ihnen alle Einzelheiten über die Therapie wissen, danach sprechen wir
darüber, ob der Junge noch einmal zu Ihnen kommt.«
Dr. Torres war müde. Der fehlende Schlaf forderte
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