Das Kind der Rache
die von der spanisch-mexikanischen Vergangenheit Kaliforniens handelten. Hinter den
dickleibigen Bänden stand das ledergebundene Buch, nach dem
Alex suchte. Vorsichtig zog er es aus dem Regal und setzte
sich in den Ledersessel am Kamin. Er schlug das Buch auf und
betrachtete die Illustration auf der ersten Seite.
Es war der Stammbaum seiner Vorfahren, der Familie de
Melendez y Ruiz. Das oberste Kästchen des weitverzweigten
Baumes trug den Namen Raymond Torres. Raymonds Eltern,
das zeigte die Ahnentafel, hießen Maria und Carlos Torres.
Über seine Mutter, deren Mädchenname Maria Ruiz lautete,
war Raymond Torres mit Don Roberto de Melendez y Ruiz
verwandt. Zwischenglied war Alejandro, das einzige Kind des
Adeligen, das bei dem Massaker auf der Hazienda verschont
geblieben war. Über dem Namen Raymond Torres befand sich
ein leeres Kästchen.
Alex schloß das Buch und legte es an den Rand der Feuerstelle. Dann ging er zum Schreibtisch und zog die unterste
Schublade auf. Er nahm ein Notizbuch heraus, das eine Reihe
von handschriftlichen Eintragungen enthielt. Es war Dr. Torres'
Schrift, und die Eintragungen waren die Details eines Planes,
den der geniale Chirurg vor vielen Jahren gefaßt hatte. Er hatte
mit den Mitteln der Technologie den Sohn erschaffen wollen,
der ihm von der Natur versagt geblieben war.
Die Dämmerung war hereingebrochen, als Alex das Geräusch
des sich nähernden Wagens vernahm. Er stand auf, um sich das
Gewehr zu holen, das er in die Ecke neben die Tür gestellt
hatte. Als Raymond Torres den Raum betrat, lag die Waffe auf
Alex' Knien, der Junge hielt den Finger am Abzug. Dr. Torres
hatte die Schwelle überquert und blieb stehen. Er maß seinen
ungebetenen Besucher mit einem überraschten Blick.
Schließlich lächelte er.
»Du wirst mich nicht töten«, sagte er. »Und ich bin auch
sicher, daß du keinen der anderen Morde begangen hast. Gib
mir das Gewehr, und dann wollen wir in Ruhe darüber reden,
wie es mit deiner Behandlung weitergeht.«
»Es gibt keine Notwendigkeit, über meine Behandlung zu
reden«, erwiderte ihm Alex. »Ich weiß, was mit mir los ist. Sie
haben mein Gehirn durch Computer ersetzt. Sie haben mich
programmiert.«
»Du hast also das Notizbuch gefunden, nicht wahr?«
»Es war nicht schwer, Ihre Aufzeichnungen zu finden, Dr.
Torres. Ich kenne mich in diesem Haus bestens aus. Und
natürlich wußte ich auch den Weg hierher.«
Das Lächeln war aus Dr. Torres' Gesicht verschwunden. »Ich
verstehe nicht, woher du diese Kenntnisse hast.«
»Wissen Sie denn nicht mehr, was für eine Operation Sie bei
mir durchgeführt haben?« fragte Alex.
Dr. Torres ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Ohne
auf das Gewehr zu achten, das Alex auf ihn gerichtet hielt,
durchquerte er den Raum, umrundete seinen Schreibtisch und
ließ sich auf dem Schreibtischsessel nieder. Die
Mikroprozessoren im Gehirn des Jungen, die Datenbänke, die
eingespeicherten Programme... War es vorstellbar, daß ihm bei
der Implantation ein Fehler unterlaufen war? Unmöglich.
»Natürlich erinnere ich mich an die Operation«, sagte er. »Ich
zweifle allerdings daran, ob du die Zusammenhänge verstehst.«
»Jedenfalls verstehe ich, worauf es ankommt«, sagte Alex
leise. »Sie haben mich mit Ihrem eigenen Gedächtnis
programmiert. Dachten Sie, ich würde das nicht rausbekommen?«
Torres ließ die Frage ohne Antwort verklingen. »Bei welcher
Gelegenheit, glaubst du, habe ich dich programmiert?«
»Immer, wenn Sie mich einem Test unterzogen haben«, gab
Alex zur Antwort. »Statt die Daten aufzuzeichnen, haben Sie
meine Mikroprozessoren mit Ihren Programmen gefüttert.«
»Ich gebe zu, daß ich dich programmiert habe«, sagte Dr.
Torres. Ȇbrigens habe ich deinen Eltern heute reinen Wein
eingeschenkt. Ich habe ihnen alles gesagt, was sie über die
Operation wissen müssen.«
»Wirklich alles?« fragte Alex. »Haben Sie ihnen auch gesagt, daß Sie mein Gehirn nicht nur mit Daten, sondern auch
mit Ihrem Gedächtnis programmiert haben?«
»Ich verstehe nicht, wovon du redest«, log Torres. Es war
das erstemal im Gespräch mit Alex, daß er so etwas wie Angst
verspürte.
»Wenn Sie es nicht verstehen, dann will ich es Ihnen erklären«, sagte Alex. »Nach der Operation war mein Gehirn
leer. Aufgrund der Computer, die Sie mir eingesetzt haben, war
ich in der Lage, neue Informationen aufzunehmen. Aber ich
konnte noch nicht logisch denken.«
»Das ist nicht
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