Das Kind der Rache
unheimlichen Ruhe erfüllt. Gewissenhaft hatte er alle Fragen beantwortet, die der Sergeant
ihm stellte.
Zuerst hatte Finnerty ihn gefragt, wo er sein Gewehr
aufbewahrte. Marsh hatte ihn zur Garage geführt. Sie hatten
festgestellt, daß die Waffe verschwunden war.
Marsh hatte sich in diesem Augenblick an die Worte erinnert, die Dr. Torres zu ihm gesagt hatte. »Alex ist unfähig,
einen Menschen umzubringen.«
Aber Cynthia und ihre Tochter Carolyn waren ermordet
worden. Sie waren erschossen worden. Die Beschreibung des
mutmaßlichen Täters paßte auf Alex. Und das Gewehr, das
Marsh in der Garage aufbewahrte, war nicht mehr an seinem
Platz.
Torres hatte sich geirrt.
Und dann wiederholte Marsh vor den beiden Beamten, was
Torres ihm eine Stunde zuvor erklärt hatte. Sie hörten ihm
höflich zu, aber sie sagten ihm auch, daß sie seine Angaben
nachprüfen mußten. Sie würden Raymond Torres vernehmen.
Sergeant Jackson hatte in Dr. Torres' Klinik angerufen.
Nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, war ihm mitgeteilt
worden, daß der Arzt nach Hause gefahren sei. Man hatte ihm
die private Telefonnummer gegeben. Es war dann Finnerty, der
diese Nummer ohne Erfolg anwählte.
»Dr. Lonsdale«, sagte Finnerty, »Sie dürfen meine Worte
nicht als Vorwurf empfinden, aber nach Lage der Dinge ist es
von größter Wichtigkeit, daß wir Alex so schnell wie möglich
finden. Haben Sie eine Ahnung, wo er sich zu diesem
Zeitpunkt aufhalten könnte?«
Marsh verneinte. »Wenn er nicht bei Dr. Torres ist, dann
weiß ich nicht, wo er sein könnte.«
»Vielleicht bei seinen Schulfreunden?« fragte Jackson.
»Seit dem Unfall hat er keine Freunde mehr.« Marsh
kämpfte mit den Tränen. »Seine Kameraden haben gemerkt,
daß etwas mit ihm nicht stimmt. Sie meiden ihn.«
»Okay«, sagte Sergeant Finnerty. »Wir werden einen
Beamten hierlassen, der Ihr Haus im Auge behält. Ich habe
eine Fahndung mit dem Autokennzeichen durchgegeben, aber
davon dürfen wir uns nicht zuviel versprechen. Die Chance,
daß Alex mit Hilfe der Fahndung aufgespürt wird, ist gleich
null. Es wäre aber denkbar, daß Ihr Sohn freiwillig nach Hause
kommt. Für diesen Fall werden wir einen Kollegen in einem
Wagen mit neutralem Kennzeichen vor Ihrem Haus
stationieren.«
Marsh schien nicht zuzuhören, er starrte ins Leere. Und
deshalb fand sich Finnerty zu ein paar tröstlichen Worten
bereit. »Dr. Lonsdale«, sagte er, »ich kann Ihnen gar nicht
beschreiben, wie leid uns die ganze Sache tut. Vielleicht stellt
sich doch noch heraus, daß Ihr Sohn mit einem anderen jungen
Mann, der ähnlich aussieht, verwechselt wurde.«
Marsh wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sie
brauchen sich nicht zu entschuldigen, Sergeant«, sagte er. »Sie
tun nur Ihre Pflicht.« Zögernd sprach er weiter. »Und ich will
Ihnen noch etwas sagen, was bisher nicht so klar
herausgekommen ist. Alex ist potentiell gefährlich. Seit der
Operation hat er keine Gefühle mehr. Er kann nicht lieben, er
kann nicht hassen. Wenn er wirklich für die bisher
geschehenen Morde verantwortlich ist, wird er weitermorden.«
Es gab eine Pause, während Finnerty über den Hinweis
nachdachte. Dann fragte er: »Dr. Lonsdale, würden Sie mir
erklären, was genau Sie mit Ihrer Warnung sagen wollen?«
»Wenn Sie Alex finden«, sagte Marsh, »sollten Sie ihn
erschießen, ehe er Sie erschießt.«
Jackson und Finnerty wechselten einen raschen Blick. Es
war Jackson, der zuerst die Sprache wiederfand. »Was Sie da
von uns verlangen, Dr. Lonsdale, ist unmöglich.
Bisher liegt kein Beweis vor, daß Ihr Sohn für die Morde
verantwortlich ist. Jemand hat ihn gesehen, wie er mit dem
Gewehr in der Hand die Straße herunterkam. Sein Gesicht war
blutverschmiert. Aber was beweist das? Er könnte auch Hasen
gejagt und sich dabei verletzt haben.«
»Nein«, flüsterte Marsh. »Er ist der Mörder.«
»Ob es wirklich so ist, muß ein Gericht entscheiden«, erklärte Sergeant Jackson. »Wir werden Ihren Sohn suchen, Dr.
Lonsdale. Aber wir werden ihn nicht erschießen.«
»Sie haben immer noch nicht verstanden«, sagte Marsh. Aus
seinen Augen sprach unendliche Müdigkeit. »Der Mörder heißt
Alex, aber er ist nicht Alex. Im Körper meines Sohnes steckt
ein anderer, und wenn Sie nicht...«
»Okay«, sagte Sergeant Finnerty. »Okay.« Er sprach mit der
ruhigen Stimme, die er bei Menschen benutzte, die kurz vor
einem Nervenzusammenbruch standen. »Sie und Ihre Frau
sollten sich wegen der
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