Das Kind der Rache
wir uns nicht zu unterhalten. Eine
vollständige Genesung ist im Falle dieses Patienten ausgeschlossen, weil durch die Verletzungen zuviel Gehirnsubstanz
zerstört worden ist. Es wird für Alex keine vollständige
Heilung geben. Allerdings könnte er, wenn alles gutgeht, in der
Lage sein, wieder zu gehen und zu sprechen, zu denken, zu
sehen, zu hören und zu fühlen. Möglich ist auch, daß er nur
einen Teil der eben aufgezählten Fähigkeiten zurückgewinnt.«
»Und Sie wären bereit«, fragte Marsh, »die Operation bei
meinem Sohn durchzuführen?«
Dr. Torres zuckte die Achseln. »Sie werden verstehen, daß
ich nicht sehr begierig bin, die Liste meiner Erfolge mit einem
Fehlschlag zu verunzieren.«
Marsh sank der Mut. »Fehlschlag?« flüsterte er. »Dr. Torres,
wir sprechen über meinen Sohn! Ohne Ihre Hilfe wird er
sterben. Es geht hier nicht um Erfolg oder Mißerfolg, sondern
um Leben und Tod.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich die Operation ablehne«, gab
Torres zurück. »Unter gewissen Bedingungen bin ich bereit,
das Risiko auf mich zu nehmen.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sich Marsh in den
Sessel fallen. »Ich gehe auf alle Bedingungen ein.«
Dr. Mallory gab sich nicht so großzügig. »Was sind das für
Einschränkungen, von denen Sie sprechen?«
»Ich benötige die vollständige Verfügungsgewalt über den
Patienten, das ist die erste Bedingung. Außerdem möchte ich
von jeder Haftung freigestellt werden, was die Ergebnisse der
Operation angeht.« Marsh wollte etwas sagen, aber Dr. Torres
ließ sich nicht unterbrechen. »Drittens werde ich es sein, der
bestimmt, wann der Patient meine Klinik verläßt.« Er öffnete
seinen Schreibtisch, zog ein Formular heraus und übergab es
Marsh. »Dies ist die Vereinbarung, die Sie und Ihre Frau zu
unterzeichnen haben. Ich empfehle Ihnen, die einzelnen
Klauseln genau durchzulesen. Ich bin allerdings nicht bereit,
auch nur ein Wort an dieser Vereinbarung zu ändern. Entweder
Sie unterzeichnen den Vertrag so, wie er ist, oder Sie lassen es
bleiben. Wenn Sie einverstanden sind, können Sie den Jungen
sofort zu mir bringen. Je länger wir warten, um so größer
werden die Risiken der Operation. Die Erfahrung zeigt, daß bei
solchen Patienten mit einem raschen Verfall der Kräfte zu
rechnen ist.« Er stand auf. »Ich bedaure, meine Herren, daß ich
Ihre Zeit so lange in Anspruch nehmen mußte, aber selbst
Computer brauchen einen gewissen Spielraum, um ihre Arbeit
auszuführen.«
Dr. Mallorys Blick war auf Dr. Torres gerichtet. »Wenn Dr.
Lonsdale und seine Frau die Zustimmung zur Operation des
Jungen geben, wann würden Sie den Eingriff ausführen, und
wie lange wird die Operation dauern?«
»Morgen«, kam die Antwort. »Die Operation wird mindestens achtzehn Stunden dauern, fünfzehn Ärzte und
Assistenten werden daran beteiligt sein.« Er wandte sich zu
Marsh. »Und vergessen Sie nicht, Dr. Lonsdale, daß die
Chancen einer teilweisen Genesung nur 20 Prozent betragen,
was bedeutet, daß die Operation mit einer Wahrscheinlichkeit
von 80 Prozent ein Fehlschlag wird. Es tut mir leid, aber es
scheint mir richtig, Ihnen dies mit schonungsloser Offenheit zu
sagen.«
Er ließ Marsh und seinen Begleiter hinausgehen und zog die
Tür seines Büros hinter sich ins Schloß.
Dr. Torres saß an seinem Schreibtisch und dachte über den Ort
nach, zu dem die beiden Ärzte, die ihn gerade besucht hatten,
nun zurückfuhren.
La Paloma.
Die Operation, mit der das Ehepaar Lonsdale ihn beauftragen würde, war die größte Herausforderung in seiner
chirurgischen Laufbahn. Merkwürdig, daß der junge Patient
nicht nur aus dem gleichen Ort stammte, wo er, Raymond
Torres, geboren war, sondern auch der Sohn einer Frau war, an
die er sich aus seiner Jugend nur allzugut erinnerte.
Er war sicher, Ellen Lonsdale hatte keine Ahnung, wer er in
Wirklichkeit war.
In La Paloma, wo er seine Kindheit verbracht hatte, wurden
die Nachkommen der Californios, der ersten Siedler, genauso
abschätzig behandelt wie die Mexikaner.
Nur logisch, daß er und seine Spielkameraden die Gringos
damals von Herzen verachtet hatten.
Raymond Torres erinnerte sich noch sehr gut, wie er mit
seiner Großmutter in der Küche gesessen hatte. Sie hatte ihm
erzählt, welche Erniedrigungen seine Mutter und seine
Schwestern als Dienstboten hatten hinnehmen müssen. Bei
solchen Gelegenheiten hatte die alte Frau auch von ihrer
eigenen Jugend gesprochen, von jenen
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