Das Kind der Rache
Hilfe angewiesen ist.« Sie zögerte, bevor
sie weitersprach. »Er wird morgen operiert werden. Es wird
eine lange, schwierige Operation werden, und es ist nicht
sicher, ob er den Eingriff überlebt. Ich möchte, daß du während
der Operation in seiner Nähe bist. Aber nicht als weinendes
Häuflein Elend, sondern als das starke, mutige Mädchen, zu
dem wir dich erzogen haben.«
Ein langes Schweigen folgte diesen Worten, dann erschien
der Schatten eines Lächelns auf Lisas Lippen. »Ich soll Alex
Mut machen, nicht wahr?«
Carol nickte. »Denke daran, daß es um Alex geht, nicht um
dich.« Sie stand auf und zwang sich zu einem Lächeln. »Jetzt
bist du am Zug, mein Kind.«
Vierzig Minuten später kam Lisa die Treppe herunter. Sie trug
Jeans und ein weißes Oberhemd, das aus den Beständen ihres
Vaters stammte. Ihr Haar war naß vom Duschen. »Wer hat
alles angerufen?« erkundigte sie sich. »Ich meine außer Prinz
Andrew und John Travolta. Mit den beiden habe ich nämlich
schon gesprochen, um ihnen zu sagen, daß unsere Affäre ein
für allemal zu Ende ist.«
»Ich habe die Namen der Anrufer auf den Block geschrieben, der neben dem Telefon liegt«, sagte ihre Mutter.
»Könntest du mir sagen, was du vorhast, oder muß ich das
morgen der Zeitung entnehmen?«
»Ich habe vor, meine Freundinnen und Freunde zusammenzutrommeln«, erklärte Lisa. »Um wieviel Uhr wird Alex
operiert?«
Lisas Vater ließ die Zeitung sinken. »Die Operation beginnt
um sechs Uhr früh und wird insgesamt achtzehn Stunden
dauern.«
»Ich werde dort sein«, sagte Lisa. Und dann ging sie in die
Küche, um zu telefonieren.
»Hast du ihr ins Gewissen geredet?« fragte Jim, als sie fort
war.
»Das habe ich«, sagte Carol. »Ich glaube, unser Mädchen
wird jetzt erwachsen.«
Kim, die jüngere Tochter, kam und barg ihren Kopf in
Mutter s Schoß.
»Ich hoffe, Alex wird wieder ganz gesund«, flüsterte sie.
»Ich mag Alex.«
»Wir alle mögen Alex«, sagte ihre Mutter. »Und er wird
ganz sicher wieder gesund, wenn wir für ihn beten.«
Und wenn Raymond Torres ein so guter Chirurg ist, wie er
glaubt, dachte sie.
Während Carol Cochran über Alex' Überlebenschancen
nachdachte, betrat Dr. Torres das Krankenzimmer, in dem der
bewußtlose Junge lag. »Keine Veränderungen«, sagte die
Krankenschwester nach einem prüfenden Blick auf die Geräte.
Dr. Torres trat näher, um den Jungen zu betrachten. Das gleiche Gesicht wie seine Mutter. Die Erinnerungen
überwältigten ihn.
Vorbei, dachte er. Das alles ist jetzt nicht mehr wichtig. Er
trat zu ihm und prüfte die Reflexe der Pupillen. Keine Reaktion. Ein schlechtes Zeichen.
»Ich schlafe heute in der Klinik, in dem Zimmer neben
meinem Büro«, sagte er. »Wenn sich der Zustand unseres
jungen Patienten in irgendeiner Weise ändert, möchte ich
sofort geweckt werden.«
»Gewiß, Herr Doktor«, antwortete die Krankenschwester.
Ohnehin bestand in Dr. Torres' Klinik die Anweisung, den
Chef sofort zu benachrichtigen, wenn es besondere
Vorkommnisse gab. Sie folgte ihm bis zur Tür, dann kehrte sie
zu Alex zurück.
Dr. Torres überquerte den Flur und betrat den Vorraum des
OPs. Sein Blick glitt über die Kittel und Gesichtsmasken, die
für die morgige Operation bereitgelegt waren. Durch ein
Fenster konnte er die sechs Assistenten beobachten, die mit
Vorbereitungsarbeiten beschäftigt waren. Diese Männer
würden noch die ganze Nacht zu tun haben. Sie würden den OP
erst eine Stunde vor der Operation verlassen.
Er ging weiter und betrat den Computerraum, wo eine Reihe
von Technikern mit der Überprüfung der eingespeicherten
Programme befaßt war. Es ging darum, etwaige Fehler
auszumerzen, die sich beim Programmieren eingeschlichen
hatten. Bisher, so sagte ihm einer der Männer, hatten sie nichts
gefunden.
Es gab eine andere Fehlerquelle, über die Dr. Torres in
diesem Augenblick nachdachte. Die Schläfer.
Als ›Schläfer‹ bezeichneten die Programmierer einen Fehler,
der vor langer Zeit in das System Eingang gefunden und sich
dort versteckt hatte, ohne daß irgend jemand ahnte, daß dieser
Fehler überhaupt existierte. Tauchte ein solcher Schläfer
während einer computergesteuerten Operation aus den Tiefen
des Programms auf, so konnte dies katastrophale Folgen haben.
Noch schlimmer war, wenn der Schläfer von sich aus neue
Fehler in das Programm mischte, wenn er kleine Schläfer
gebar.
Schläfer konnten zu Änderungen der Gehirnfunktion führen.
Sie
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