Das Kind der Rache
»Nun gut, nennen wir ihn
Alex.« Er ließ seine Finger über die Tastatur des Computers
fliegen. Das Bild verschwamm. Fasziniert beobachteten die
beiden Ärzte aus La Paloma, wie einzelne Gewebeschichten
des Gehirns abgeschält wurden. Allmählich schlossen sich die
Wunden. Der Endzustand zeigte ein menschliches Gehirn, an
dem keinerlei Verletzungen mehr zu erkennen waren.
Allerdings gab es einige Bereiche, die mit roter Farbe
gekennzeichnet waren.
»Was hat die rote Farbe zu bedeuten?« fragte Marsh.
»Das sind die Bereiche des Gehirns, die nach der Operation
ohne Funktion verbleiben würden.«
Dr. Mallory wandte sich zu dem Mann, dessen wohlgeformte
Hände immer noch auf dem Speichermechanismus des
Computers ruhten. »Was Sie uns gezeigt haben, Herr Dr.
Torres, ist reine Science Fiction. Einschnitte von der Tiefe, wie
sie in Ihrem Computerprogramm vorgesehen sind, können
nicht durchgeführt werden, ohne dem Patienten tödliche
Verletzungen zuzufügen. Weder Sie noch irgendein Chirurg
kann diese Operation mit Erfolg ausführen.«
Dr. Torres quittierte den Einwand mit einem wohlgelaunten
Lachen. »Und wieder haben Sie recht, mein lieber Kollege.
Kein Chirurg auf der Welt könnte das machen, nicht einmal
ich. Meine Hände sind viel zu grob, um die mikroskopisch
kleinen Schnitte durchzuführen. Und deshalb sollen Sie Alex in
mein Institut bringen.« Er schaltete den Computer ab und erhob
sich aus seinem Sessel. »Kommen Sie bitte mit, ich möchte
Ihnen etwas zeigen.«
Sie verließen das Büro und wurden von Dr. Torres in den
Westflügel des Gebäudes geführt. Der Eingang zu diesem
Bereich wurde von einem Wachposten gesichert. Sie passierten
eine sterile Schleuse, die in einen Operationssaal einmündete.
Dr. Torres trat zur Seite und ließ seine beiden Kollegen
passieren.
Die Mitte des Raums wurde von einem Operationstisch
eingenommen. An der Wand standen die gleichen Apparate
und elektronischen Systeme, die Marsh aus der eigenen Klinik
kannte. Der Rest des OPs wurde von einer Anordnung von
Gerätschaften beherrscht, wie sie die Ärzte aus La Paloma
noch nie in ihrem Leben gesehen hatten.
»Roboter, die auf Mikrochirurgie spezialisiert sind«, erklärte
Dr. Torres. »Statt mit Millimetern arbeiten wir hier mit der
Maßeinheit des Millimikrons. Das System besteht aus einem
Elektronenmikroskop und einem Computerprogramm.« Der
Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Der Arzt wird
von diesen Robotern zum simplen Techniker degradiert. Das
Mikroskop liefert dem Computer ein Bild der Probleme. Der
Computer macht die Analyse und bestimmt, welche Lösungen
es gibt. Falls es Sie interessiert: Die Sache funktioniert. Diese
Maschine und ich sind in der Lage, den größten Teil der
Hirnverletzungen zu operieren, die Alex Lonsdale hat.«
Marsh blieb unsicher. »Wie hoch sind die Chancen, daß
Alex die Operation überlebt?«
»Das müssen wir den Computer in meinem Büro fragen«,
entgegnete Dr. Torres. Sie kehrten in das Haupthaus zurück.
Dr. Lonsdale und Dr. Mallory nahmen vor dem Sichtschirm
Platz. Dr. Torres schaltete den Computer ein. Er gab eine Reihe
von Informationen ein. Auf dem Schirm erschien eine Graphik.
ÜBERLEBENSCHANCE
CHANCE, DASS DER
PATIENT DAS BEWUSSTSEIN WIEDERGEWINNT
CHANCE FÜR TEILWEISE
GENESUNG
CHANCE FÜR
VOLLSTÄNDIGE
WIEDERHERSTELLUNG
DER FUNKTIONEN
BEI DURCH-
FÜHRUNG
DER
OPERATION
90 PROZENT
OHNE
OPERATION
10 PROZENT
50 PROZENT 2 PROZENT
20 PROZENT 0 PROZENT
0 PROZENT 0 PROZENT
Marsh und Dr. Mallory studierten das Zahlenbild. Nach einer
Weile fragte Marsh: »Was würden Sie unter einer teilweisen
Genesung verstehen, Herr Dr. Torres?«
»Daß der Patient ohne Atemgerät atmen kann, daß er
wahrnimmt, was um ihn herum vorgeht, und daß er mit der
Umwelt kommunizieren kann. Alles unterhalb dieser Schwelle
stellt nach meiner Meinung überhaupt keine Genesung dar. Ich
meine damit die Patienten, die bei Bewußtsein sind, aber nicht
mit der Umwelt kommunizieren können. Ich finde es
unwürdig, daß solche Menschen mit Maschinen am Leben
erhalten werden. Die These, daß Menschen keinen Schmerz
verspüren, weil sie nicht in der Lage sind, diesen Schmerz der
Umwelt mitzuteilen, ist wissenschaftlich unsinnig.«
»Und was wäre demgegenüber eine vollständige Genesung?« fragte Dr. Mallory.
»Genau das, was auch der medizinische Laie darunter
versteht«, gab Dr. Torres zur Antwort. »Aber über diese
Möglichkeit brauchen
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