Das Kind der Rache
wissenschaftlichen Reputation dieses Mannes und seinem
Benehmen. Es war großgewachsen, ein Mann mit vollem,
leicht angegrautem Haar. Marsh fand, er sah eigentlich nicht
wie ein Arzt, sondern wie ein Filmstar aus. Dieser Eindruck
wurde von dem perfekt gearbeiteten Maßanzug unterstrichen,
den er trug. Insgesamt erinnerte der Mann Marsh an das, was
man sich in Kalifornien unter einem Modearzt, unter einem
Mediziner, der sich auf die Wehwehchen der oberen
Zehntausend spezialisiert hatte, vorstellte.
Als seine Pfeife brannte, verkündete Dr. Torres, daß er in
diesem Fall erst eine Entscheidung treffen könne, wenn seine
Spezialisten die überreichten Unterlagen analysiert hatten. Dies
konnte, wie er seinem Besucher bedeutete, den ganzen Tag
dauern.
»Ich werde warten«, sagte Marsh.
»Wie Sie wünschen. Ich kann Sie aber auch anrufen, um
Ihnen meine Entscheidung mitzuteilen.«
»Nein, ich warte lieber. Alex ist mein einziges Kind. Die
Sache ist so wichtig für mich, daß ich im Augenblick für nichts
anderes Interesse habe.«
Dr. Torres hatte sich von seinem Schreibtischsessel erhoben,
mit einer lässigen Geste, die Marsh als ein Zeichen für
Überheblichkeit einstufte. »Es ist mir recht, wenn Sie warten
wollen. Aber Sie müssen mich jetzt bitte entschuldigen. Ich
habe heute einen sehr vollen Terminkalender.«
Marsh war so erstaunt, daß er kaum weitersprechen konnte.
»Möchten Sie sich denn nicht anhören, was ich Ihnen zu dem
Fall zu sagen habe?«
»Es steht doch alles in den Unterlagen«, hatte Dr. Torres
geantwortet.
»Was nicht in den Unterlagen steht, ist die Seele des Jungen,
Dr. Torres.«
Die Antwort war kühl. »Ich bin Forscher, Dr. Lonsdale, kein
Therapeut, der sich zu seinen Patienten ans Bett setzt. Manche
halten mich deshalb für wenig umgänglich, aber das stört mich
nicht. Mein Interesse besteht darin, den Menschen zu helfen,
nicht ihnen zu schmeicheln. Um Ihrem Sohn zu helfen, brauche
ich nichts über sein Vorleben zu wissen. Es interessiert mich
nicht, wer er ist und wie er aussieht, ebensowenig, wie es zu
dem Unfall kam. Grundlage für meine Überlegungen sind
einzig und allein die Verletzungen, die Ihr Sohn davongetragen
hat. Mit anderen Worten: Alles, was ich über Ihren Jungen
wissen muß, steht in der Krankengeschichte. Sollte ich
trotzdem eine Frage haben, so kann sie mir der behandelnde
Arzt Ihres Sohnes besser beantworten als Sie.«
»Alex wird von Dr. Mallory behandelt.«
»Wer auch immer.« Verächtliches Schulterzucken.
»Aber ich habe natürlich nichts dagegen, daß Sie es sich im
Wartezimmer bequem machen.« Ein Lächeln spielte um seine
Mundwinkel. »Der Lesestoff, den Sie dort vorfinden, besteht
natürlich im wesentlichen aus Fachliteratur, die ich selbst
verfaßt habe. Ich hoffe, Sie werden sich nicht langweilen.«
Marsh mußte an sich halten, um die verletzende Bemerkung
nicht mit einer zornigen Erwiderung zu beantworten. Er
schwieg, weil es ohne Dr. Torres keine Hoffnung für Alex gab.
Aus der Fachliteratur, die im Wartezimmer lag, ging hervor,
daß es sich bei Dr. Torres wirklich um den führenden
Theoretiker in der Gehirnforschung handelte. Nicht nur, daß er
sich bestens in den Funktionen auskannte, die von den
unterschiedlichen Bereichen des menschlichen Gehirns
gesteuert wurden. Unter anderem verfügte dieser Mann über
ausgedehnte chirurgische Erfahrungen auf einem Gebiet, das
Marsh im Hinblick auf Alex' Verletzungen besonders
interessierte. Es gab, wie Dr. Torres in seinen Artikeln
ausführte, bestimmte Regionen des Gehirns, die in der Lage
waren, für die ausgefallenen Funktionen anderer Gehirnteile
einzuspringen. Er las:
Es ist gesicherte Erkenntnis, daß einzelne Bereiche des
menschlichen Gehirns die Funktion anderer Bereiche, die
infolge von Verletzungen oder durch andere Umstände
ausgefallen sind, übernehmen. Man könnte sagen, daß die
unterschiedlichen Teile ›wissen‹, was die anderen Teile tun.
Das Problem besteht darin, das verletzte Gehirn zur
Umschichtung der Aufgaben zu ermutigen. Wir müssen
gewissermaßen dafür sorgen, daß sich das Gehirn der
Probleme, die durch die Verletzungen entstanden sind,
bewußt wird.
Marsh hatte den Artikel mehrmals durchgelesen, als die
freundliche junge Dame im Wartezimmer erschien, die ihn
beim Betreten des Instituts empfangen hatte.
»Herr Dr. Torres würde jetzt gern mit Ihnen sprechen.«
Marsh legte die Zeitschrift aus der Hand und folgte dem
Mädchen in Dr. Torres' Büro. Er war
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