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Das Kind der Rache

Das Kind der Rache

Titel: Das Kind der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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herrlichen Tagen, als
das Geschlecht derer von Melendez y Ruiz eine riesige
Hazienda samt unermeßlichen Liegenschaften besessen hatte.
Damals hatten Familien wie Torres und Ortiz, Rodriguez und
Flores in den weißen Häusern gewohnt, die den Weg zwischen
La Paloma und der Hazienda flankierten. Wieder und wieder
hatte ihm seine Großmutter das Massaker auf der Hazienda
geschildert, dem damals so viele Californios zum Opfer
gefallen waren. Nicht nur der Besitzer der Ländereien, auch die
Aufseher und ihre Familien waren von den Amerikanern ermordet, ihre Nachkommen von Haus und Hof vertrieben
worden. Dies alles würde einmal gerächt werden, hatte seine
Großmutter gesagt. Die Rache würde vollzogen werden, sobald
der Sohn von Don Roberto de Melendez y Ruiz zurückkehrte,
um die Gringos zu vertreiben.
Der kleine Raymond hatte sich das angehört und geschwiegen. Er wußte, daß die Träume der alten Frau Träume
bleiben würden. Als sie dann starb, hatte er gehofft, daß er
künftig von den ständigen Erinnerungen an einstigen Glanz
verschont bleiben würde. Er hatte sich getäuscht. Seine Mutter
nahm die Litanei auf, die von seiner Großmutter angestimmt
worden war. Auch heute noch bewahrte sie den Haß auf die
Gringos in ihrem Herzen. Der Gedanke an Rache war es, wofür
sie zu leben schien.
Aber Rache würde es nicht geben. Die Gringos würden nicht
aus diesem Teil Kaliforniens vertrieben werden. Jedenfalls
hatte Raymond Torres keine Lust, sein Gewissen mit solchen
Gedanken zu befrachten. Er überließ es seinen Freunden, sich
in finsteren Drohungen gegen die verhaßten Amerikaner zu
ergehen.
Seine Rache war von anderer Art. Er würde die gleiche
Erziehung genießen wie die Gringos. Er würde sie mit ihren
eigenen Mitteln schlagen. Er würde ihnen, die sich als
auserwählte Rasse düngten, überlegen sein.
Jetzt war der Tag gekommen, wo die Gringos ihn brauchten.
Er würde ihnen helfen, auch wenn er damit den Haß seiner
Mutter auf sich zog.
    »Warum kann die Operation denn nicht hier in La Paloma
durchgeführt werden?« fragte Ellen. Sie fühlte sich erholt,
nachdem sie einige Stunden geschlafen hatte. Trotzdem hatte
sie Schwierigkeiten, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die
Marsh ihr erklärt hatte.
    »Das geht nicht wegen der medizinischen Geräte«, hörte sie
ihren Mann sagen. »Es würde viel Zeit und Geld kosten, dies
alles hierherzubringen. Ganz abgesehen davon, daß wir für
soviel Technik in unserem OP gar keinen Platz haben.«
»Würde Alex die Operation denn überleben?«
    Es war Dr. Mallory, der Ellens Frage beantwortete. »Mit
Sicherheit kann das niemand sagen, aber er hat eine gute
Chance. Sein Puls ist schwach, aber regelmäßig. Während des
Transports im Krankenwagen bleibt er an das Atemgerät
angeschlossen.«
    »Die Entscheidung liegt bei dir, Ellen«, sagte Marsh. »Die
Vereinbarung mit Dr. Torres muß von dir und mir
unterschrieben werden.«
    Ellens Blick verlor sich in den Tiefen der Erinnerung. Raymond Torres. Großgewachsen und gutaussehend. Ein junger Mann mit dunklen, brennenden Augen. Und doch hätte kein
Mädchen in der Klasse sich dazu herabgelassen, mit ihm
Freundschaft zu schließen. Ein intelligenter Schüler. Mehr als
das - Raymond Torres war der beste Schüler seines Jahrgangs.
Ein Junge, der keine Freunde hatte. Ein Einzelgänger, der eine
Aura von Unnahbarkeit und Arroganz um sich verbreitete. Und
jetzt hing das Leben ihres Sohnes von diesem Mann ab.
    »Wie sieht er aus?« hörte sie sich fragen.
Marsh sah sie überrascht an. »Ist das so wichtig?«
»Natürlich nicht, ich frage nur so. Als Schüler war dieser
    Torres ein merkwürdiger Zeitgenosse. Herablassend zu den
anderen. Ich glaube, die meisten von uns haben vor ihm Angst
gehabt. Jedenfalls mochten wir ihn nicht.«
    »Wenn es so ist«, sagte Marsh, »hat er sich nicht verändert.
Er ist immer noch die Arroganz in Person. Aber es könnte sein,
daß er derjenige ist, der Alex heilen kann.«
    Sie dachte nach. »Wir haben keine andere Wahl, oder?« Sie
unterschrieb die Vereinbarung, ohne den Text gelesen zu
haben, und überreichte Marsh das Dokument. Dann kam ihr ein
furchtbarer Gedanke.
    Wenn Raymond Torres so zuversichtlich war, daß die
Operation Erfolg haben würde, warum ließ er sich dann
schriftlich von jeder Verantwortung für die Folgen des
Eingriffes freistellen? Es war eine Frage, zu deren Beantwortung Ellen Lonsdale der Mut fehlte.
Sechstes Kapitel
    Carol

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